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Adolf Busemann, „Verwilderung und Verrohung” (1956)

Adolf Busemann beklagte den alarmierenden Anstieg der Jugendkriminalität in den 1950er Jahren in West-Deutschland. Er verdeutlichte dabei, dass Jugendliche nicht nur mehr, sondern auch schwerere Straftaten begingen. Für Busemann war die Zunahme der angezeigten Kriminalität nur die Spitze eines viel breiteren – und sogar noch besorgniserregenderen – Trends zu einem Verhalten, das zur Kriminalität neige. Den Anstieg der Jugendkriminalität führte er auf das frühere Einsetzen der Pubertät sowie besonders auf den Abbau sozialer und moralischer Hemmungen zurück. Er forderte der Verwilderung und Verrohung der Jugendlichen, in Schulen und in der Gesellschaft im Allgemeinen durch energische sozialpolitische und sozialpädagogische Maßnahmen Einhalt zu gebieten.

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Übereinstimmend melden alle Länder des Abendlandes, eingeschlossen die USA, die sogar an der Spitze marschieren, einen erschütternden Anstieg der Jugendkriminalität. Im Jahre 1954 standen in der Bundesrepublik
560 000 Jugendliche
(=bis zum vollendeten 18. Lebensjahr) vor dem Richter. Für das 1. Halbjahr 1955 ist bereits ein weiterer Anstieg gegenüber der gleichen Zeit des Vorjahres um 17% festgestellt worden. Von den genannten 560 000 Jugendlichen waren mehr als ein Drittel noch weniger als 14 Jahre alt. Allein im Lande Nordrhein-Westfalen wurden (1954) 10 893 Kinder im Alter von 12,0 bis 13,11 als Täter strafbarer Handlungen erfasst. Während die Gesamtkriminalität in Bayern von 1954 um 3,5% stieg, erhöhte sich die Anzahl der straffällig gewordenen Jugendlichen zwischen 18 und 20 Jahren um 13%, die Anzahl der Kinder (bis 14 Jahre) sogar um 17%. Weiter lehrt die Statistik, dass der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtkriminalität in Großstädten wesentlich höher liegt als in ländlichen Bezirken, und dass in rund 80% der Fälle der Täter unter schädlichen familiären Verhältnissen aufwuchs (Unehelichkeit, Verwaisung, Ehezerwürfnis, Ehescheidung, usw.), die es heute ja in allen Wohlstands- und Bildungsschichten reichlich gibt. Zur Beurteilung der Anzahl 560 000 bedarf es noch folgenden Kommentars. Die Kriminologie lehrt, dass immer und überall mehr strafbare Handlungen begangen als angezeigt oder gar bestraft werden. Mit welchem Faktor wir de Zahl 560 000 multiplizieren müssen, um die ungefähre Anzahl wirklich begangener Straftaten jugendlicher Täter zu errechnen, kann uns niemand sagen. Es mag sein, dass wir jene Zahl verdoppeln müssten!

Noch wesentlicher ist folgendes. Vom moralischen und insofern auch vom psychologischen Standort aus ist eine strafbare Handlung die Aufgipfelung eines sehr viel breiteren und häufigeren Verhaltens gleicher Richtung. Unterhalb und hinter jenen 560 000 Fällen steht also nicht nur eine vermutlich ebenso große Anzahl geschehener aber unerfassten Straftaten, sondern, was hier mehr wiegt, eine unabsehbare breite Schicht von Verhaltensweisen bei wahrscheinlich mehreren Millionen Jugendlicher in Richtung auf jene Straftaten, auf Ungesetzlichkeiten, auf Konflikte mit der moralischen und rechtlichen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Und endlich darf nicht vergessen werden, dass dieser Anstieg der erfassten Kriminalität junger Menschen zwischen 12 und 18 samt dem Hinter- und Untergrunde einer viel breiteren Widersetzlichkeit gegen Gemeinschaftsordnungen nicht von gestern ist, sondern sich in Jahrzehnten, etwa seit 1920, allmählich, letzthin allerdings mit katastrophaler Beschleunigung, herausgebildet hat.

Beispiele

Statistiken erwecken beim Laien mitunter ein durch böse Erfahrungen veranlasstes Misstrauen. Hier liegen die Tatsachen jedoch unzweideutig vor uns. Ihre nähere Prüfung ergibt, dass die Jugendkriminalität nicht nur der Fallhäufigkeit, sondern auch der Schwere nach zugenommen hat. Innerhalb weniger Monate bringt die Presse Berichte über Dutzende von Rohheitsverbrechen: „Den dreijährigen Spielkameraden zu Tode gequält“ [ . . . ]; „Vierzehnjähriger ermordet Siebenjährigen“ [ . . . ]; „Achtjähriger Junge, von zwei Zwölfjährigen auf Schienen gefesselt, damit er überfahren wird“ [ . . . ]; „Dreizehnjähriger ermordet eine Greisin“ [ . . . ]; „Schuljungen steinigen auf der Dorfstraße alten Mann fast zu Tode“ [ . . . ]; „Vierzehnjähriger ertränkt missbrauchtes Mädchen“ [ . . . ]; „Vierzehnjährige versuchte Raubüberfall“ [ . . . ]; „Sechzehnjähriger verübt Raubmord an alleinstehender älterer Frau“ [ . . . ]; „Fünfzehnjähriger erwürgt seinen zehnjährigen Spielgefährten“, „Fünfjähriges Mädchen prügelt de dreijährige Spielkameradin durch Schläge mit einer Zaunlatte zu Tode“, „Vierzehnjähriger schlägt schlafenden Kameraden bewusstlos und zündet das Haus an, um den Mord zu verheimlichen“. Oder: „Schuljunge erlegt ein Eichhörnchen und schlägt es, unter dem Beifall des [ . . . ] Vaters, zu Tode“. „Schuljunge hetzt, im Beisein seiner Eltern, im Stadtpark ein Eichhörnchen, schlägt es lahm und tot.“ „Jugendliche hetzen Muffellamm zu Tode“. An Mord, Raubmord, Tierquälerei schließen sich Vergewaltigungen usw. an. Der prozentuelle Anteil der Sexualdelikte an den Straftaten Jugendlicher insgesamt stieg z.B. in Nordrhein-Westfalen von 4% (1938) auf 16,5% (1954). Es ist also nicht an dem, dass heute mehr Bagatellvergehen erfasst werden als früher und dadurch die Kriminalitätsziffern gestiegen sind. Das Gegenteil ist der Fall! Die Überzahl ernstlicher Vergehen und schwerer Verbrechen nötigt dazu, lässlichere Verstöße am Rande liegen zu lassen.

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