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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit des § 175 (1957)

1957 fällte das Bundesverfassungsgericht Urteile in Berufungsverfahren, die von Günter R., einem Koch, und Oskar K., einem Kaufmann, angestrengt worden waren. Beide waren schuldig gesprochen worden, den Paragraph 175 des Strafgesetzbuches verletzt zu haben. Dieser verbot homosexuelle Beziehungen zwischen Männern. Der Paragraph 175 ging auf die Gründung des Deutschen Reiches 1871 zurück. Während der Weimarer Republik war die strafrechtliche Verfolgung der Homosexuellen deutlich zurückgegangen, und 1929 sprach sich der zuständige Reichstagsausschuss sogar dafür aus, den Paragraph 175 abzuschaffen. Doch der Aufstieg der Nationalsozialisten verhinderte die Durchsetzung der Abschaffung. Vielmehr wurde eine veränderte Version des Paragraph 75 verabschiedet, welche die Verfolgung männlicher Homosexueller noch ausweitete, indem die Definition von kriminellen unanständigen Handlungen zwischen Männern erweitert und eine härtere Bestrafung der sogenannten Straftäter vorgeschrieben wurde.

Nach ihrer Gründung 1949 übernahm die Bundesrepublik die nationalsozialistische Revision des Paragraphen 175. In ihrem Berufungsverfahren stellen Günter R. und Oskar K. den Paragraph 175 als Ausdruck des nationalsozialistischen Rasse-Denkens dar und argumentierten, er verletze die demokratischen Prinzipien, auf denen die Bundesrepublik angeblich gegründet sei. Darüber hinaus argumentierten beide, der Paragraph 175 stelle eine Verletzung des Grundgesetzes dar, insbesondere des Artikels 2, der jedem Individuum das Recht auf freie Persönlichkeitsentwicklung garantiere. Außerdem, so argumentierten beide weiter, verletze der Paragraph 175, indem er sexuelle Handlungen zwischen Männern, nicht jedoch zwischen Frauen kriminalisierte, auch den Artikel 3 des Grundgesetzes, der gleiche Rechte für Männer und Frauen festschrieb.

Das Berufungsverfahren zog sich über sechs Jahre in die Länge, und 1957, als das Bundesverfassungsgericht seinen untenstehenden Schiedsspruch veröffentlichte, war einer der Beschwerdeführer, Oskar K., bereits verstorben. Das Gericht entschied in letzter Instanz, alle Aspekte der Anklage der Beschwerdeführer abzuweisen. Dem Historiker Robert G. Moeller zufolge „äußerte der Gerichtshof“ mit der Veröffentlichung dieser Entscheidung „einstimmig seine Sichtweise, dass die Kriminalisierung männlicher homosexueller Handlungen weder Bereiche des Grundgesetzes verletze noch die Grundlagen einer „freien Demokratie“ unterminiere“.

Neben vielem anderen bedeutete der Wiederaufbau Deutschlands in der Nachkriegszeit auch die Wiederherstellung der Geschlechterbeziehungen, die durch die Nazi-Zeit, die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs und die langen und schwierigen Nachwirkungen des Krieges vollständig zerrüttet worden waren. Moeller betont, dass die Einschätzung des Gerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Paragraph 175 unterstrich, dass „jene Beziehungen nur heterosexueller Natur sein sollten“. [Robert G. Moeller, “The Homosexual Man is a ‘Man,’ the Homosexual Woman is a ‘Woman’”: Sex, Society, and the Law in Postwar West Germany,” Journal of the History of Sexuality, vol. 4, no. 3, pp. 395-429.]

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1. Die Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität (§§ 175 f. StGB) verstoßen nicht gegen den speziellen Gleichheitssatz der Abs. 2 und 3 des Art. 3 GG, weil der biologische Geschlechtsunterschied den Sachverhalt hier so entscheidend prägt, dass etwa vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten.

2. Die §§ 175 f. StGB verstoßen auch nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2, Abs. 1 GG), da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt und nicht eindeutig festgestellt werden kann, dass jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehlt.

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Urteil des Ersten Senats vom 10. Mai 1957 – 1 BvR 550/52 – in dem Verfahren über die verbundenen Verfassungsbeschwerden 1. des Kochs Günther R. gegen das Urteil der Großen Strafkammer 6 des Landgerichts Hamburg vom 14. Oktober 1953 – 2 KLs. 86/52 - , 2. Des am 26. April 1956 verstorbenen Kaufmanns Oskar K. gegen das Urteil der Großen Strafkammer 4 des Landgerichts Hamburg vom 2. Februar 1952 – 2 KLs. 254/51 -.

Entscheidungsformel:
1. Die Verfassungsbeschwerde des Günther R. wird zurückgewiesen.
2. Die Verfassungsbeschwerde des Oskar K. ist durch seinen Tod erledigt.

Gründe:
A.
Mit der Verfassungsbeschwerde bekämpfen die Beschwerdeführer ihre Verurteilung wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht; darüber hinaus erstreben sie die Feststellung der Nichtigkeit der §§ 175 f. StGB.

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Beide Beschwerdeführer haben ihre Verfassungsbeschwerde darauf gestützt, dass die gegen sie ergangenen Strafurteile die §§ 175 und 175 a StGB zu Unrecht als geltendes Recht behandelt hätten. § 175 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 28. Juni 1935 sei inhaltlich nationalsozialistisches Gedankengut, habe daher mit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft seine Geltung verloren. Dieses Gesetz beruhe auf dem sogenannten Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das verfassungswidrig gewesen sei; infolgedessen seien die darauf beruhenden Gesetze nichtig. – Die §§ 175, 175 a StGB verstießen ferner gegen Art. 2 und 3 GG.

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Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst in der Sache des Beschwerdeführers K…die Anhörung von Sachverständigen zu folgenden Fragen beschlossen:

a) Bestehen im Triebleben beim Mann und bei der Frau wesentliche Unterschiede, die sich auch bei gleichgeschlechtlicher Betätigung auswirken?

b) In welcher Richtung stellen männliche Homosexualität einerseits und lesbische Liebe andererseits eine soziale Gefährdung dar? Sind ihre Auswirkungen und Erscheinungsformen in Familie und Gesellschaft verschieden? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang der große Frauenüberschuss und die Häufigkeit der gemeinsamen Haushaltführung zweier oder mehrerer Frauen (Gefahr bösartigen Klatsches und der Erpressung?)

c) Besteht ein Unterschied in der Aktivität und Hemmungslosigkeit bei gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern einerseits und zwischen Frauen andererseits, so dass damit der Grad der Verbreitung solcher Handlungen und die Gefahr zur Verführung insbesondere Jugendlicher hierzu verschieden ist? Tritt die männliche Homosexualität im Gegensatz zur lesbischen Liebe stärker in der Öffentlichkeit in Erscheinung? Gibt es eine Prostitution der männlichen Homosexuellen und der Lesbierinnen?

Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hat das Gericht gutachtliche Äußerungen der nachbenannten Sachverständigen eingeholt.

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