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Aus der Denkschrift des Bundesministeriums für Familienfragen über „Die Gründe unseres Geburtenrückgangs” (1957)

Das Bundesministerium für Familienfragen diskutiert 1957 in einer Denkschrift die Gründe für den Geburtenrückgang in der bundesdeutschen Gesellschaft des Wirtschaftswunders. Unter den Bedingungen der Industriegesellschaft bedeutet Kinderreichtum ein erhöhtes Armutsrisiko. Zudem fehlt es immer noch an ausreichend Wohnraum. Hervorgehoben weiter aber auch der Hang zum Konsum und zur Steigerung des individuellen Lebensstandards, die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen, moderne Praktiken der Geburtenkontrolle, der Verlust von Millionen potentieller Familienväter durch den Krieg und die steigende Zahl der Ehescheidungen.

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Die Gründe für den Geburtenrückgang

A. Die veränderte wirtschaftliche Situation der Familie:
Die ... Feststellungen – je niedriger das Einkommen, desto niedriger im allgemeinen die Kinderzahl – ergeben eindeutig, daß ein Hauptgrund für das Absinken der Geburten die veränderte Wirtschaftssituation der Familie in der industrialisierten Gesellschaft ist. In der vorindustriellen Zeit war überwiegend der Familienbetrieb Fundament der Wirtschaftsordnung. Er gab der Familie mit allen ihren Gliedern – einschließlich der Großeltern und der hohen Zahl der in der damaligen Ordnung ledig bleibenden Kinder – volle wirtschaftliche Sicherheit. Es galt damals der Satz: Je mehr Kinder, desto größer die wirtschaftliche Kraft der Familie.

Diese Ordnung wurde durch das Aufkommen der arbeitsteiligen Industriewirtschaft innerhalb kurzer Zeit radikal umgestaltet. Während vorher die Masse der Bevölkerung im sicheren Hort des Familienbetriebes lebte und arbeitete, sind heute fast 80 Prozent unserer schaffenden Menschen als Arbeitnehmer im fremden Betrieb tätig. Element dieser neuen Wirtschaftsordnung ist der Leistungslohn, der als solcher für Ledige und Familienväter gleich hoch ist. Damit hat sich der für die Familie in der vorhergehenden Wirtschaftsordnung geltende Grundsatz in sein Gegenteil verkehrt. Er lautet nunmehr: Je mehr Kinder, desto größer die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Familie. [ . . . ]

B. Überbewertung des Lebensstandards:
Unter den Motiven für die bewußte Kleinhaltung der Familie spielt zweifellos auch die Überbewertung des Lebensstandards eine Rolle. Geistige und wirtschaftliche Entwicklungen greifen hier ineinander über. Der Individualismus mit seiner oft allzu einseitigen Hervorhebung des Rechts der Einzelpersönlichkeit hat es mit sich gebracht, daß schon die Ehe weitgehend nicht mehr so sehr als gesellschaftliche Institution im Sinne der christlichen Kirchen, sondern mehr als ein Mittel gesehen wurde, die eigene Persönlichkeit an dem Partner zu vervollkommnen. In konsequenter Weiterentwicklung dieser Auffassung ist der Einzelne weniger geneigt, Opfer für Kinder zu bringen und zugunsten der kommenden Generation auf einen Teil seines Standards zu verzichten. Die Entwicklung der Wirtschaft kam dieser Einstellung entgegen. Die sprunghafte Erhöhung des Angebots an Konsumgütern in den letzten Jahrzehnten, verstärkt durch immer durchschlagendere Werbemöglichkeiten, ließen vielen den Besitz dieser Güter wertvoller erscheinen als den Besitz von Kindern. Dies gilt ganz besonders für Deutschland, wo während zweier Weltkriege und durch deren Folgeerscheinungen in einem Menschenalter ein Bedarf angestaut wurde, der jetzt befriedigt wird. Man kann jedoch erwarten, daß – ähnlich wie in Amerika, wo die gekennzeichnete Entwicklung einige Jahrzehnte früher feststellbar ist, – auch bei uns eine Art Sättigung eintreten wird. Der außerordentliche Anstieg der Geburten, der in Amerika in den letzten Jahren zu beobachten ist, sowie die gleichzeitig von führenden Soziologen festgestellte zunehmende Verinnerlichung des Lebens, besonders des Familienlebens, in diesem Lande lassen erwarten, daß auch bei uns die Überbewertung des Lebensstandards nicht von Dauer sein wird.

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