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Probleme der jungen Generation aus der Sicht eines SED-Funktionärs (September 1946)

Der SED-Jugendfunktionär Paul Verner faßt im September 1946 in eindringlichen Worten die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Zusammenbruchs des „Dritten Reiches“ für die jüngeren Deutschen zusammen: Ein großer Teil der Männer zwischen 20 und 40 ist tot, in Kriegsgefangenschaft oder durch Kriegsverletzungen arbeitsunfähig. Unter den schwierigen Überlebensbedingungen der Nachkriegsgesellschaft steigt die Kriminalitätsrate der Teenager und jungen Erwachsenen. Das Interesse an Politik und gesellschaftlichem Engagement ist nach dem Mißbrauch jugendlicher Einsatzbereitschaft im NS-Regime zunächst gering. Verner sieht aber in den antifaschistischen Jugendausschüssen und der 1946 gegründeten Freien Deutschen Jugend (FDJ) positive Anzeichen einer neuen Jugendbewegung. Die FDJ hat allerdings keineswegs einen überparteilichen Charakter, sondern wird von der SED kontrolliert und später als staatliche Jugendorganisation der DDR eine weitgehende Monopolstellung innehaben.

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Die Masse der Jugend betrachtete sich als verlorene Generation, und sie begann unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen ihre Wanderung zwischen den zwei Welten, der in Blut und Tränen untergegangenen und jener neuen Welt, die sich die deutschen Menschen durch eigene Kraft schaffen müssen, aber deren Gestalt der Jugend in ihrer Verbitterung, Ratlosigkeit, ihrem Betrogensein und dem täglichen Druck ihrer sozialen und materiellen Lage nebelhaft und in weite Ferne gerückt scheint. Der sozialistischen Arbeiterbewegung, die durch die Entwicklung dazu berufen ist, an hervorragender Stelle die gesellschaftlichen Verhältnisse unseres Landes neu zu gestalten, obliegt die verantwortungsvolle Aufgabe, die Probleme der jungen Generation zu lösen. Sie muß der Jugend einen neuen Geist geben, sie auf neue Wege führen. Dadurch wird sie die Jugend gewinnen und sie zu einer gesellschaftlichen Kraft der Gegenwart und Zukunft gestalten können.

Wie ist denn die wirtschaftliche und soziale Lage der Jugend?

Der Zweite Weltkrieg veränderte ganz erheblich die Bevölkerungszusammensetzung. Wenn bei einer normalen Bevölkerungszusammensetzung die Altersgruppen von 20 bis 40 Jahren etwa 12 Millionen ausmachten, so sind heute kaum 6 Millionen übriggeblieben. Das bedeutet ein Absinken um die Hälfte. Die Rückkehr der Kriegsgefangenen in die Heimat wird zwar die arbeitsfähige Bevölkerung vergrößern, aber das schreiende Mißverhältnis nicht beseitigen können. Das Resultat des männermordenden Krieges ist ein absolutes Absinken der erwerbsfähigen männlichen Bevölkerung. Hinzu kommt noch, daß etwa eine Million erwerbsunfähiger oder stark erwerbsbeschränkter junger Männer die arbeitspolitische Lage noch erschweren. Im Mai 1946 waren zum Beispiel im Lande Sachsen von 4700 männlichen Arbeitslosen im Alter von 19 bis 25 Jahren 4128 erwerbsbeschränkt.

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So wie der Krieg und die Hitlerzeit Not und Krankheiten im Gefolge hatten, so brachten sie auch eine Lockerung der Arbeitsmoral und ein Anwachsen der Jugendkriminalität mit sich. Für viele ist es heute noch einträglicher, den Beruf eines Schwarzhändlers auszuüben, als durch ehrliche Arbeit ihr Brot zu verdienen.

Daß das Anwachsen der Jugendkriminalität eine unmittelbare Folge der Hitlererziehung und des Krieges ist, bedarf keiner Beweise. Es genügt die Feststellung, daß in den Jahren der Hitlerherrschaft die Verbrechen von Jugendlichen von Jahr zu Jahr zunahmen. Der Nazismus ist letzten Endes die Ursache, daß wir heute eine große Zahl jugendlicher Banditen, Schwarzmarkthändler und junger Menschen beiderlei Geschlechts haben, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Betrug, Raub, Unterschlagung und Schwarzhandel nehmen den größten Anteil der Delikte ein. 80 % aller Delikte, die durch Jugendliche in Berlin begangen wurden, sind Eigentumsdelikte. 85 % der jugendlichen Straffälligen sind Jungen und 15 % Mädel im Alter von 11 bis 21 Jahren; davon sind 40 % zwischen 16 und 18 Jahren, je 25 % zwischen 14 und 16 Jahren und 18 bis 21 Jahren und 10 % zwischen 11 und 14 Jahre alt.

Nichts wäre falscher, als aus diesen nüchternen Zahlen die Schlußfolgerung zu ziehen, die Jugend sei verwahrlost, und vielleicht mit pharisäerhaft erhobenem Zeigefinger auf die «schlimme Jugend» zu zeigen. Sensationslust und dunkle Absichten reaktionärer Kreise versuchen die wirklichen Ursachen zu verdecken, um politisches Kapital daraus zu schlagen. In dem Maße, wie sich die Verhältnisse in Deutschland bessern werden, wird auch die Jugendkriminalität zurückgehen.

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