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„Arbeitervertrag Rom – Bonn unterzeichnet”, Frankfurter Rundschau (21. Dezember 1955)

Mitte der fünfziger Jahre kann die boomende deutsche Wirtschaft ihren Arbeitskräftebedarf trotz des Flüchtlingsstroms aus Ostdeutschland und der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen nicht mehr decken. Deshalb schließt die Bundesregierung Ende 1955 mit Italien das erste einer Reihe von Abkommen zur Anwerbung italienischer Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt, das innerhalb eines Jahres bis zu 100.000 Italiener in die Bundesrepublik bringen soll.

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Arbeitervertrag Rom – Bonn unterzeichnet
Zahl der italienischen Arbeitskräfte nicht begrenzt
Drahtbericht unseres Italienkorrespondenten Hans Bauer




Rom, 20 Dezember. Mit der Unterzeichnung durch Außenminister Martino und Arbeitsminister Storch am Dienstag in Rom ist das italienisch-deutsche Abkommen über die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte für die Bundesrepublik in Kraft getreten. Im Gegensatz zu ähnlichen zwischen Italien und anderen Ländern bestehenden Konventionen fällt die Anwerbung in den Zuständigkeitsbereich des italienischen Arbeitsministeriums, dem deutscherseits die Bundesanstalt ihre Anforderungen bekanntgibt. Die Angeworbenen werden einem in Mailand errichteten Auswanderungszentrum zugeleitet, wo eine deutsch-italienische Kommission nochmals ihre Eignung überprüft. In Löhnung und sozialer Fürsorge sind die italienischen Arbeitnehmer den Deutschen grundsätzlich gleichgestellt. Arbeiter mit Jahresvertrag können auch ihre Familien nachkommen lassen, falls für deren Unterkunft gesorgt ist oder sie können ihren Arbeitslohn bis zu einer vollen Höhe nach Italien überweisen.

Storch will noch „viel, viel mehr“

Storch erklärte in einem Interview mit dem Blatt Giornale d’Italia, in dem Abkommen sei keine feste Quote von italienischen Arbeitnehmern festgesetzt, weil die Bundesrepublik so viele wie möglich aufnehmen wolle. Gegenwärtig arbeiteten über 50 000 Italiener in der Bundesrepublik, er hoffe jedoch, dass es gegen Ende des nächsten Jahres „viel viel mehr“ sein werden. Storch hatte am Montagnachmittag eine Unterredung mit Außenminister von Brentano, der – wie Storch sagte – das neue Abkommen von ganzem Herzen unterstützt.

SPD: Dauerarbeitslosigkeit an der Zonengrenze

Bonn (eigener Bericht) Zum Abschluß des deutsch-italienischen Vertrages erklärte am Dienstag ein Sprecher der Opposition, die SPD bekenne sich grundsätzlich zur Freizügigkeit. Er erinnerte aber nachdrücklich an die hohe Dauerarbeitslosigkeit in den Zonenrandgebieten. Die SPD erwarte von der Bundesregierung, daß sie unter bedeutender Verstärkung des sozialen Wohnungsbaus diese Arbeitslosen an die Industriezentren heranbringe.

Bundesarbeitsminister antwortet

In einem Schreiben an die SPD Fraktion erklärte Bundesarbeitsminister Storch gleichzeitig auf eine Anfrage, im Interesse der deutschen und ausländischen Arbeitnehmer müssten gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen sichergestellt werden. Nur dann könne eine Beeinträchtigung des deutschen Lohn- und Tarifgefüges verhindert werden.

„Nur geringe Arbeiterreserven“

Vor der Bundespressekonferenz begründete Staatsekretär Sauerborn vom Bundesarbeitsministerium am Dienstag den Vertragsabschluß damit, daß ein Rückgriff auf ausländische Arbeitskräfte 1956 nicht mehr zu vermeiden sein werde. Im vergangenen Jahr sei die Beschäftigtenzahl um rund eine Million gesteigert worden. In Zukunft jedoch könne nicht mehr ein so günstiges Ergebnis erwartet werden, da unter den Arbeitslosen nur noch verhältnismäßig geringe Reserven vorhanden seien.



Quelle: Hans Bauer, „Arbeitervertrag Rom – Bonn unterzeichnet“, Frankfurter Rundschau, 21. Dezember 1955, S.1.

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