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Renate Mayntz über die Motive von Frauen für eine Berufsaufnahme (1955)

Die Soziologin Renate Mayntz begründet das Interesse der Frauen an einer Berufstätigkeit nicht primär mit aktuellen wirtschaftlichen Notwendigkeiten, sondern mit dem Wunsch der Frauen nach größerer Selbständigkeit in der Ehe sowie materieller Absicherung für ledige, geschiedene oder verwitwete Frauen. Hinzu komme das Bedürfnis nach intellektuellen Anregungen und sozialen Erfahrungen, die unter den Bedingungen der modernen Kleinfamilie zu Hause nicht mehr gegeben seien.

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Es ist gegenwärtig fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden, daß ein Mädchen einen Beruf erlernt. Hier macht sich in erster Linie eine praktische Notwendigkeit geltend. Da die heutige Familie klein und aus dem festen Verwandtschaftsverband verhältnismäßig stark ausgegliedert ist, kann sich eine Frau nicht darauf verlassen, als Ledige, als Witwe oder als Frau eines Arbeitslosen von Eltern, Geschwistern oder anderen Verwandten versorgt und unterhalten zu werden. Die berufliche Ausbildung soll der Frau die Möglichkeit geben, auch unverheiratet ihre Selbständigkeit zu bewahren und für sich selbst aufkommen zu können. Sie soll ihr ebenfalls ermöglichen, als Witwe oder als geschiedene Frau sich und evtl. auch ihre Kinder erhalten zu können. Darüber hinaus steht ja auch die Eheschließung heute oft im Zeichen einer gemeinsamen Existenzgründung, bei der die Frau als Partner ihren Teil durch eigenen Verdienst beiträgt. Auch hierzu benötigt sie die berufliche Tätigkeit. Zu diesen praktischen Gründen, die eine Berufsausbildung für die Frau notwendig machen, kommen weitere Faktoren, die das weibliche Streben nach Berufstätigkeit bedingen und fördern. Zunächst genießt die Frau heute weitgehend die gleiche Erziehung wie der Mann. Diese Erziehung ist auf Leistung ausgerichtet. Leistung in der Schule, Leistung in der Berufsausbildung und schließlich in der Berufsausübung wird durch Anerkennung belohnt. Diese Anerkennung mit dem aus ihr wachsenden Selbstbewußtsein ist gerade für den heutigen Menschen ein Bedürfnis geworden. Genau wie der Mann strebt daher die ledige Frau nach Leistungserfolgen, die sie vor allem durch ihre Berufstätigkeit erringen kann.

Die eigene Berufstätigkeit befriedigt weiterhin das heute überall betonte und auch bei der Frau wirksame Bedürfnis nach Selbständigkeit. Hinzu kommt ein weiteres Persönlichkeitsbedürfnis, das vielleicht noch schwerer wiegt als die eben genannten und das ebenfalls auf eine weibliche Berufstätigkeit hindrängt. Das Leben in der Öffentlichkeit und in der Berufswelt ist eine Quelle dauernder geistiger Anregung, eine Quelle immer neuer sozialer Erfahrungen. Während es möglich ist, Selbständigkeit und anerkannte Leistungserfolge zugunsten einer gefühlsmäßig befriedigenden Bindung an Mann und Kinder aufzugeben, so ist es in dem kleinen Kreis der heutigen Familien, in dem viel enger gewordenen Bereich familiärer und häuslicher Aufgaben sehr viel weniger möglich, einen Ersatz für die dauernde Anregung, für die Abwechslung und die neueren Erfahrungen im außerfamiliären Leben zu finden. Erst durch eine auch während der Ehe, unter Umständen auch als Mutter fortgeführte Berufstätigkeit fühlt sich manche Frau in der Lage, in geistiger Hinsicht die Rolle der Gleichwertigkeit ihrem Manne gegenüber einzunehmen, die für die Gefährtenfamilie die Voraussetzung ist.

Man kann dagegen anführen, daß die berufliche Arbeit für viele Frauen einseitig und monoton ist, daß sie in abhängiger Stellung und in einer unpersönlichen Umwelt geleistet wird. Man kann sagen, daß wichtige seelische, geistige und gefühlsmäßige Bedürfnisse der Frau bei einer solchen Arbeit unbefriedigt bleiben müssen und daß es ihr gerade diese Tatsache erleichtert, eine Berufstätigkeit für die sinnvollere Aufgabe als Mutter, für die gefühlsmäßig befriedigendere Bindung an den Mann und für die oft größere Freiheit der familiengebundenen Arbeit aufzugeben. Zweifellos gibt es viele Frauen, auf deren Berufsarbeit dieses Argument zutrifft. Man braucht hier nur an die Arbeiterin am Fließband zu denken oder an eine Frau, die täglich 8 Stunden Fischpaste in Dosen füllt oder Kondensatoren wickelt. Jedoch kann nicht nur die Ärztin und Juristin, die Lehrerin und Journalistin, sondern auch die Verkäuferin, die Sekretärin oder Werkschwester in ihrem Beruf einen Grad an Befriedigung erreichen, den ihr die Arbeit im Hause als solche schuldig bleiben muß.



Quelle: Renate Mayntz, Die moderne Familie. Stuttgart, 1955, S. 56 f.; abgedruckt in Klaus-Jörg Ruhl, Hg., Frauen in der Nachkriegszeit 1945-1963. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1988, S. 208-10.

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