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Diskussionsbeitrag einer Lehrerin nach einem Referat Kurt Hagers zur Schulsituation (Oktober 1960)

Der Diskussionsbeitrag einer Lehrerin nach einer Rede des SED-Chefideologen Kurt Hager beschreibt 1960 in drastischen Worten die Wirklichkeit, die sich aus der Doppelbelastung durch Familie und Beruf für die Frauen in der DDR ergibt. Die vielfältigen beruflichen Aufgaben und die sonstigen Pflichten, die sich gerade aus einer Tätigkeit als Lehrerin ergeben, sind mit Familienleben und Kindererziehung nicht in Einklang zu bringen.

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Wenn ich fromm wäre, hätte ich gesagt: «Gott sei Dank, endlich kommt mal jemand und fragt, was an der Basis los ist. Darum bin ich sehr gern hierher gekommen. Und ich habe mir auch fest vorgenommen zu sagen, was ich auf dem Herzen habe. Entweder hilft es oder nicht, aber sagen muß ich es.»

Es wurde richtig gesagt, daß der Ablauf des Unterrichtsprozesses jetzt der schwächste Punkt ist. Das ist Tatsache. Es wurde auch gefragt: warum? Das muß doch eine Ursache haben. Es wird sogar verschiedene Ursachen haben. Ich glaube, zumindest eine der Ursachen ist mir klar und vielen Kolleginnen auch. Zu Beginn des Schuljahrs stürzte wieder alles auf uns zu. Mir wurden auf einmal wieder alle meine Pflichten bewußt. Ich bin als Klassenleiterin selbstverständlich voll verantwortlich für meine Klasse und ich fühle mich auch voll verantwortlich. Ich bin also verpflichtet, ganz eng mit meinen Fachlehrern zusammenzuarbeiten. Ich bin auch verantwortlich dafür, daß sie alle ihre Pläne erfüllen, daß es klappt. Wie ich deren Unterricht besuchen kann, weiß ich allerdings nicht, weil ich zu denselben Zeiten Unterricht habe wie sie. Ich bin auch verpflichtet, eng mit dem Elternbeirat zusammenzuarbeiten, überdies Elternbesuche durchzuführen. Ich bin verpflichtet – und das brennt mir auf der Seele, und ich bilde mich auch weiter – mich weiterzubilden. Ich bin verpflichtet, auch gesellschaftlich innerhalb der Partei und der Gewerkschaft zu arbeiten. Ich möchte am Parteilehrjahr teilnehmen. Ja, es ist gesagt worden: «Du bist Genossin, selbstverständlich mußt du als FDGB-Mitglied auch an der Gewerkschaftsschulung teilnehmen. Du bist doch Vorbild. Das geht gar nicht anders.»

Mein Junge ist 15 Jahre alt. Ich bin eine Mutter zu Hause. Da versuche ich es, und kriege es auch einigermaßen hin. Aber ich sehe meine armen Kolleginnen, die drei Kinder haben und einen kranken Mann oder einen Mann, der zufällig auch Lehrer ist. Was meinen Sie, wie da der Tag aussieht! Die rennen durch die Wohnung, packen ihre Kinder in den Kindergarten, Tasche unter dem Arm und in die Schule! Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, in welchem Zustand eine solche Frau schon in die Schule kommt? Vielleicht klappt etwas im Unterricht nicht – z. B. Disziplinschwierigkeiten. Sie verliert schneller die Nerven als eine Frau, die ausgeruht in die Schule kommt, und schon sind die Schwierigkeiten da. Sie ist vielleicht einmal ungerecht. Da hat sie ihren schwarzen Punkt weg.

Ist mal kein pädagogischer Rat, sind keine Elternbesuche, keine Schule, keine Sitzung, dann saust sie nach Hause. Außer am Waschtag hat sie sowieso immer etwas zu waschen. Dann holt sie ihre Kinder. Vielleicht hat das Kind den Husten. Dann muß sie sich weiterbilden, dann muß sie sich auf den Unterricht vorbereiten. Und ich bin ehrlich: Das was zuletzt kommt, ist immer die Unterrichtsvorbereitung. Die geht bis in die Nachtstunden. Wenn der Junge kein Hemd mehr hat, muß eben erst noch einmal gewaschen werden und so weiter. Die Unterrichtsvorbereitung ist das, was hinausgeschoben werden muß, weil man es dann noch machen kann. Und dann wird es 11½, 12 Uhr. In unserer Schule haben ordentliche, nette Kolleginnen aufgehört. Eine hatte sehr kleine Kinder, die kurz hintereinander kamen. Sie sagte: «Ich bin gerne Lehrerin, ich möchte das später wieder einmal machen, aber mit zwei kleinen Kindern schaffe ich das nicht.» Die andere hatte erwachsene Kinder und einen kriegsbeschädigten Mann. Auch sie sagte: «Ich schaffe das nicht, also ziehe ich die Konsequenzen. Ich kann nicht etwas tun, von dem ich von vornherein weiß, daß es schiefgehen könnte.»

Eine andere Kollegin hat aufgehört. Sie war der Sache nicht gewachsen. Sie war sehr ehrgeizig. Sie hat sich krank gemacht, herzkrank, nervenkrank. Der Arzt hat ihr gesagt: «Wenn Sie noch ein bißchen weiterleben wollen, dann müssen Sie sich einen anderen Beruf suchen.» Da hat sie aufgehört. – Das alles in einem Jahr!

Eine andere hat einen schweren Nervenzusammenbruch gehabt, sie wird wahrscheinlich nie wieder in unserem Beruf arbeiten können. – Und das alles an unserer Schule!



Quelle: PDS-Archiv, SED-Bezirksleitung Leipzig, IV 2/9.02/520 Bl. 167 f; abgedruckt in Christoph Klessmann und Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 481-83.

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