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Bundesminister Franz-Joseph Wuermeling über die Aufgaben der Familienpolitik (1958)

In den 1950er Jahren ist staatliche Familienpolitik durch die familienpolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten und der kommunistischen Regierung der DDR diskreditiert und zudem mit den christlich-individualistischen Gesellschaftsvorstellungen der CDU nicht ohne weiteres vereinbar. Der neue Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling bemüht sich deshalb, den besonderen Charakter der bundesdeutschen Familienpolitik herauszustellen: Demnach geht es nicht um eine aktive Stimulierung von Familiengründungen im Interesse des Staates, sondern darum, durch staatliche Hilfen wirtschaftliche und soziale Hindernisse, die sich dem Kinderwunsch von Ehepaaren entgegenstellen, abzubauen.

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I. Nicht um des Kollektivs willen
Wenn ein demokratischer Staat, der sich zur Freiheit und Würde des selbstverantwortlichen gottbezogenen Menschen als Grundlage der öffentlichen Ordnung bekennt, »Familienpolitik« betreibt, so ist das etwas grundsätzlich anderes als die »Bevölkerungspolitik« des Nationalsozialismus. Unsere neue deutsche Familienpolitik hat immer noch darunter zu leiden, daß dieser Unterschied nicht gesehen wird, weil die praktischen Maßnahmen der Familienpolitik oft denen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik ähneln, obschon Ausgangspunkt und Motive völlig verschieden sind. Totalitäre Regime treiben »Bevölkerungspolitik«, weil das Kollektiv, dessen Interessen hier allein maßgebend sind, Arbeitskräfte und ggf. auch Soldaten braucht, kurz, weil das Kollektiv Interesse an mehr Kindern als den Trägern der kollektiven Funktionen der kommenden Generation hat. Der totalitäre Staat betrachtet die Familie als den Funktionär des Kollektivs, der den Auftrag hat, für Staat und Gesellschaft Kinder großzuziehen. Daraus wird – unter Hitler nicht anders als im kommunistischen Bereich – die Konsequenz gezogen, daß die Kinder nicht gefördert – oder gar von den Eltern getrennt und in öffentliche Erziehung genommen – werden, bei denen eine Erziehung im Sinne der herrschenden einseitigen politischen Lehre nicht gewährleistet ist. Zu dieser Linie paßte es auch, das den Familien gezahlte Kindergeld – unter Hitler wie im gesamten kommunistischen Bereich – aus staatlichen Steuermitteln zu zahlen, weil der Staat verpflichtet scheint, zu den Kosten der für ihn großgezogenen Kinder beizusteuern*. Ausgangspunkt ist hier immer: Der Staat muß für seine Kinder sorgen. Dies ist bewußt etwas zugspitzt formuliert, um den Grundunterschied zwischen totalitärer Bevölkerungspolitik und demokratischer Familienpolitik im letzten sichtbar zu machen.

Wir haben dieser totalitären Schau die klare These entgegenzusetzen: Unsere Kinder sind nicht Kinder des Staates, sondern Kinder der Familie. Die Eltern schenkten ihnen mit Gottes Segen das natürliche Leben, das sie in erster Linie zum ewigen Leben und erst in zweiter Linie zu mitverantwortlicher Staatsbürgerschaft auf irdischer Pilgerfahrt berief. Die Eltern und nicht der Staat tragen deshalb die entscheidende Verantwortung für ihre Erziehung und Ausbildung. Der Staat und andere kollektive Institutionen haben hier lediglich in dem Ausmaß Hilfe zu leisten, in dem die Eltern ihrer Aufgabe bei den heutigen vielfältigen und komplizierten Anforderungen nicht mehr allein gerecht werden können. Es ist notwendig, diese Grundstruktur des Verhältnisses zwischen Familie und Staat klar herauszustellen, um jedem Abgleiten in kollektivistische Gedankengänge und in entsprechend falsche Konsequenzen vorzubeugen.

Wenn sich staatliche Familienpolitik heute um Familie und Kinder kümmert, hat das seinen Grund also letztlich nicht darin, daß der Staat mehr Kinder braucht. Der Staat hat gar kein Recht, von den Familien mehr – oder auch weniger! – Kinder zu fordern, da er mit solchen Forderungen seine Grenzen überschreiten und in den geheiligten Intimbereich von Ehe und Familie eindringen würde, der allein der Gewissensverantwortung der Eltern vor Gott vorbehalten ist.

II. Eingriff der Gesellschaft in die Freiheit der Familie
Wenn wir heute Familienpolitik treiben, so deshalb, weil einem – gewiß unbeabsichtigten – Eingriff der Gesellschaft in den Intimbereich von Ehe und Familie begegnet werden muß, der als Folge der Arbeitsteilung, der Industrialisierung und der Verstädterung immer deutlicher zutage tritt: Die Familie mit Kindern ist heute sozial deklassiert, ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind heute – im Gegensatz zu früher! – so groß, daß die überwältigende Mehrzahl der Familien sich durch die heutige wirtschaftlich-soziale Ordnung gehindert sieht, die Zahl von Kindern zu haben, die sie sich wünscht. Gewiß spielt hier auch Überbewertung des materiellen Lebensstandards, Mangel an ethischer Opferbereitschaft u. a. m. eine bedeutsame Rolle, die keinesfalls übersehen werden darf. Es wäre auch unnatürlich, wenn man von Eltern nicht Opfer – und fühlbare Opfer! – für das große Glück des Besitzes von Kindern erwarten dürfte und müßte. Aber all diese ethischen Gesichtspunkte können die gewichtige Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß unsere durch Arbeitsteilung und Industrialisierung bestimmte Gesellschaftsordnung die Familie mit Kindern wirtschaftlich und sozial in ein Schattendasein abgedrängt hat und damit ihre selbstverantwortliche freie Entfaltung entscheidend behindert. Dieser Eingriff von Staat und Gesellschaft in die Freiheit des Verantwortungsbereichs von Ehe und Familie wird von vielen nicht gesehen, weil er eine ungewollte Begleiterscheinung der Arbeitsteilung und Industrialisierung war. Aber dieser Eingriff ist deshalb nicht weniger einschneidend und nicht weniger unerlaubt. [ . . . ]



* Daß auch sozialistische Regierungen in Westeuropa Kindergeld aus staatlichen Steuermitteln eingeführt haben, besagt nichts gegen die Richtigkeit dieses Gedankens, sondern läßt allenfalls ähnliche Ausgangspunkte erkennen.



Quelle: Franz-Joseph Wuermeling, „Familienpolitik um der Gerechtigkeit willen“, Deutsches Pfarrerblatt, Nr. 20 (1958). Sonderdruck; BA/Bestand B 191/109; abgedruckt in Klaus-Jörg Ruhl, Hg., Frauen in der Nachkriegszeit 1945-1963. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1988, S. 135-37.

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