GHDI logo


Erlass über Hilfsmaßnahmen für ehemalige politische Gefangene (1945)

Angesichts des Ausmaßes der Verbrechen des NS-Regimes gehören Wiedergutmachungsleistungen bereits vor Kriegsende zu den alliierten Forderungen für die Zeit nach der Niederlage Deutschlands. Nach Kriegsende liegt die Verantwortung für die Wiedergutmachung der NS-Verbrechen bzw. einen materiellen Ausgleich für das erlittene Unrecht der überlebenden Opfer zunächst bei den Ländern. Ende 1945 legt das Innenministerium des Landes Württemberg-Baden fest, welche materiellen Hilfen ehemalige politische Gefangene oder religiös und rassisch Verfolgte erhalten können.

Druckfassung     Dokumenten-Liste letztes Dokument im vorherigen Kapitel      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Das Innenministerium Württemberg-Baden an die Landräte und die Bürgermeister der kreisfreien Städte
Erlass: Hilfsmaßnahmen für ehemalige politische Gefangene

Stuttgart, 17. Dezember 1945


Den ehemaligen politischen Gefangenen muss eine besondere Betreuung zuteil werden. Unter diesen Personenkreis fallen insbesondere

a) ehemalige aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen zurückgekehrte Gefangene, die aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen gefangen gehalten wurden.

b) Emigranten, die sich durch die Flucht dem Zugriff der Gestapo entzogen haben und im Ausland nachweisbar den Kampf gegen das Nazi-Regime weiterführten.

c) Witwen, Kinder und Eltern der vom Faschismus wegen ihres Kampfes Gemordeten und Gerichteten, soweit sie treu zu den Gemordeten und Gerichteten gestanden und auch ihrerseits den Faschismus abgelehnt haben.

Wegen der Gewährung von Lebensmittelzulagen hat das Wirtschaftsministerium, Abteilung Landwirtschaft und Ernährung, mit Runderlass vom 14. November 1945 Nr. 860 die erforderlichen Anweisungen erteilt.

Auch für die wirtschaftliche Betreuung ist ein einheitliches Vorgehen in den einzelnen Kreisen geboten. Die Stadt Stuttgart hat hierfür folgende Richtlinien aufgestellt:

„Die aus den Konzentrationslagern entlassenen Häftlinge, die früher in Stuttgart wohnten oder sich in Stuttgart sesshaft machen wollen, werden besonders betreut. Wenn auch die Wiedergutmachung der diesen Häftlingen zugefügten Schäden nicht Aufgabe des Wohlfahrtsamts und der Stadt Stuttgart sein kann, so ist die Stadtverwaltung doch bemüht, das Los dieser Leute zu erleichtern. Bei Bedürftigkeit erhalten sie zunächst ohne Ausnahme eine Barunterstützung von 30 M.; darüberhinaus werden sie im Rahmen der allgemeinen Richtlinien der Einheitsfürsorge betreut. Sonderunterstützungen können je nach Notlage gewährt werden. Zur Beschaffung von Kleidern erhält der einwandfrei politische Häftling den Höchstbetrag von 250 M., zu Hausratsbeschaffung 400 M.

Unter bestimmten Voraussetzungen (früher Wohnsitz in Stuttgart oder mindestens 3-jähriger Aufenthalt im Konzentrationslager) kann auch eine einmalige Ehrengabe, abgestuft nach den Familienverhältnissen, in Höhe von 200-300 M. zugebilligt werden. Endlich erhält der noch lebende Ehegatte eines im Konzentrationslager ermordeten oder gestorbenen politischen Häftlings eine Gabe von 200 M. und jedes hinterbliebene Kind eine solche von 50 M. Soweit möglich, werden auch Kleidungsstücke und Wäsche gewährt. Weitere Vergünstigungen: Lebensmittelzulagen, bevorzugte Zuweisung von Wohnungen durch das Wohnungsamt; bei Erkrankung Gewährung von Krankenhilfe.“

Bezüglich der Richtsätze für die öffentliche Fürsorge ist bestimmt:

„Diese Richtsätze gelten auch grundsätzlich bei Juden und Personen, die infolge politischer Verfolgung hilfsbedürftig sind, doch darf bei ihnen in besonders begründeten Notlagen der Richtsatz bis zum 1 ½ fachen Betrag erhöht werden. Wiedergutmachungsansprüche solcher Personen können jedoch im Rahmen der öffentlichen Fürsorge nicht befriedigt werden.“

Es wird empfohlen, ebenfalls entsprechend zu verfahren und hierbei mit den von der Vereinigung der politischen Gefangenen und Verfolgten des Nazi-Systems in den einzelnen Kreisen errichteten Betreuungsstellen zusammenzuarbeiten.

Es ist beabsichtigt, die Aufwendungen, die den Kreisverbänden für diese Betreuungsmassnahmen entstehen, ganz oder teilweise aus Landesmitteln zu ersetzen. Besondere Weisung hiewegen bleibt vorbehalten.

In Vertretung Buchmann
Direktor.



Quelle: IfZ-Archiv, OMGUS, 12/26-2/26; abgedruckt in Udo Wengst, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2/2: 1945-1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, Nr. 39, S. 110-11.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite