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„30 000 laufen auf Igelit-Sandaletten” (1948)

Schon im Zweiten Weltkrieg spielte die Entwicklung und Verwendung von Ersatzstoffen für fehlende Rohstoffe und natürliche Werkstoffe eine wichtige Rolle. In der Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit setzt sich dies fort. In der sowjetischen Besatzungszone begegnet man dem Mangel an Leder für Schuhe durch die Herstellung von Sandalen aus Igelit, einem in den 1930er Jahren von der IG Farben entwickelten weichen PVC-Material, dessen Verwendung Anfang der 1950er Jahre wegen gesundheitsschädlicher Bestandteile eingeschränkt wird.

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Neben der Kleidung ist in den letzten Jahren die Schuhfrage eine der brennendsten gewesen. Zu den Hilfsmaßnahmen der Volkssolidarität Sachsen-Anhalt kam neuerdings die Herstellung von Igelit-Sandaletten. Am 1. Mai 1948 wurde in den Räumen der ständigen Musterschau die Herstellung mit drei Arbeitskräften aufgenommen und nahm einen so rapiden Aufschwung, daß heute in der Fabrikation allein 125 Kräfte und außerdem in der angeschlossenen Igelitschuhreparatur und Vulkanisierwerkstatt weitere 75 Kräfte tätig sind. In knapp fünf Monaten wurden rund 30 000 Paar Sandaletten vorwiegend für Frauen und Kinder hergestellt. Allein in Halle werden 10 000 Paar dieser Schuhe getragen, während die anderen im ganzen Lande Sachsen-Anhalt zur Verteilung kamen. In der Vulkanisierwerkstatt werden täglich 50 Fahrradmäntel vulkanisiert.

Da die Schuhe ohne Abgabe von Igelitabfällen abgegeben werden, hat die starke Nachfrage dazu geführt, daß ständig eine große Schlange vor der Verteilungsstelle zu bemerken ist. Die Räume sind schon zu eng geworden, und man mußte die gesamte Reparatur und Fabrikation in ein anderes Gebäude verlegen. Daß nicht noch mehr Schuhe fabriziert werden konnten, war keine Rohstoff-, sondern eine Raum- und Werkzeugfrage. Auch hier zeigt sich wieder die Notwendigkeit der Einheit Deutschlands, denn die Lötkolben, die zum „Löten“ der Schuhe gebraucht werden, wurden bisher im Westen hergestellt. Jedoch sind jetzt einigermaßen gute elektrische Lötkolben auch hier entwickelt worden.

In dem ganzen Betrieb werden nur Frauen und Versehrte beschäftigt, die in den Lehrgängen der Schweiß- und Versuchsanstalt in Trotha zu „Kunststoffschweißern“ ausgebildet wurden. Die Reparaturen gehen schnell vor sich, weil weder Nägel noch Garn gebraucht werden.

Gegenwärtig ist man gerade dabei, geschlossene Übergangsschuhe für den Winter zu entwickeln. Das Thema „Igelit und Winterkälte“ ist noch nicht gelöst. Es bleibt nach wie vor ein heikles Gebiet. Die Nachteile haben sich bei Igelit bisher nicht beseitigen lassen. Z. Zt. läßt sich noch kein absolut kältebeständiger Schuh herstellen. Es ist zweckmäßig, mit Igelit nicht in die Kältegrade hineinzugehen. Und was macht die Werkstatt im Winter? Sie hat alle Hände voll zu tun, denn dann läuft schon wieder die Frühjahrsproduktion, und auch Reparaturen sind immer zu erledigen.

Hier entstand durch die Volkssolidarität eine Arbeitsstätte, die vielen Schaffenden, wenn auch nur zeitbedingt, Hilfe angedeihen läßt.



Quelle: „30 000 laufen auf Igelit-Sandaletten“, in Volkssolidarität, Nr. 6, Oktober 1948, S. 6; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 85-86.

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