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Isaac Deutscher, „Östlich der Elbe” (27. Oktober 1945)

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Furcht vor einer Gefangennahme und Besetzung durch die Russen wesentlich größer als vor den Westalliierten. Nach einem knappen halben Jahr der Besetzung und Verwaltung Ostdeutschlands durch die Rote Armee zieht der Journalist und Osteuropaexperte Isaac Deutscher, ein britischer Trotzkist polnischer Herkunft, im Oktober 1945 eine verhalten positive Bilanz: Die Russen hätten dem Wunsch nach Rache für die deutschen Verbrechen in der Sowjetunion nur in der Anfangszeit nachgegeben, bemühten sich inzwischen aber, das wirtschaftliche und kulturelle Leben in ihrer Zone wieder in Gang zu bringen und würden keineswegs ausschließlich totalitäre Methoden anwenden.

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Ein halbes Jahr ist erst vergangen, seit in der Schlacht um Berlin die letzten Schüsse abgefeuert wurden und die russische Invasion Ostdeutschlands beendet war. Innerhalb dieser kurzen Periode hat sich die gesamte soziale und wirtschaftliche Struktur Ostdeutschlands fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Deutschlands Ostgrenze ist nach Westen vorgeschoben worden: und Berlin liegt jetzt fast in Reichweite der polnischen Artillerie an der Oder. Es ist, als ob die Entfernungen zwischen dem Ural und dem Baikalsee und der Spree und Elbe plötzlich zusammengeschrumpft wären, als ob ein phantastischer Erdrutsch Leipzig und Dresden in die nächste Nähe von Charkow und Tscheljabinsk geworfen hätte.

Als die Rote Armee die Gebiete östlich der Elbe betrat, klangen den Deutschen die letzten düsteren Prophezeiungen Goebbels’ über den bevorstehenden „Einbruch der Steppe“ noch in den Ohren. Die meisten Deutschen wußten, daß sie von den Russen keine Gnade erwarten konnten. Die Triebkraft hinter „den Armeen der Steppe“ war ihr Verlangen, alle die Leiden und Demütigungen, die das Dritte Reich Rußland zufügte, zu rächen. Millionen Deutsche flohen panikartig vor der russischen Rache; noch viel mehr Millionen blieben zurück und ergaben sich fatalistisch in ihre Strafe. Andererseits regte sich in Berlin und anderen Städten, wo die Kommunisten selbst nach Jahren der Gestapo-Herrschaft nicht völlig ausgerottet worden waren, in den Arbeiterbezirken Hoffnung. In der Schlacht um Berlin eilten deutsche Kommunisten vom Wedding und aus Neukölln dem Angriff der Roten Armee auf Hitlers letzte Verschanzungen zu Hilfe. Der größte Teil der Berliner Intelligenz, hin und her gerissen zwischen Fatalismus und ungewisser Hoffnung, fragte sich, ob die Russen nicht vielleicht doch die Vorteile einer gewissen Versöhnung mit dem besiegten Deutschland einsehen und sich von Racheorgien zurückhalten würden.

Mit diesem Dilemma zwischen dem Wunsch nach Rache und dem Bedürfnis nach Versöhnung ist die russische Politik noch heute konfrontiert. Stalins Bemerkung, daß die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und der Staat aber bestehen bleiben, wurde überall in Ostdeutschland auf Plakaten und Spruchbändern bekanntgemacht. Nichtsdestoweniger standen die ersten Wochen und Monate der russischen Besetzung im Zeichen einer Racheorgie. [ . . . ]

Nachdem der Anfall destruktiver Rachsucht jetzt fast vorüber zu sein scheint, ist die russische Militärregierung bemüht, Nägel mit Köpfen zu machen und das, was von Ostdeutschland übrig geblieben ist, wieder in Ordnung zu bringen. Die Eisenbahnen verkehren schließlich wieder. Städtische und öffentliche Dienstleistungen sind in Betrieb genommen worden. Schutt wird vielleicht schneller von den Straßen geräumt als in den übrigen Zonen. Das geschieht, indem man für diese Arbeit ziemlich rücksichtslos Frauen und Alte einsetzt. Der Anblick von „Ketten“ alter Frauen, die Schutt wegräumen, mag den Besucher aus Westeuropa schockieren. Aber ist es nicht besser, selbst die Alten und Schwachen zur Entrümpelung zu zwingen, um so Platz für zukünftige Gebäude zu schaffen, als daß man sie auf ein Wunder warten und inmitten des verheerenden Abfalls sterben läßt? Jene Industrien, die man nicht demontiert hat oder die sich nicht demontieren ließen – die Kohle- und Pottaschegruben, die berühmten Leunawerke, einige Zeiss-Fabriken –, arbeiten bereits wieder, manche mit Hochdruck. Kohle wird aus dem jetzt polnischen Schlesien importiert, um diese Industriebetriebe aufrechtzuerhalten. Auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen zeigen die Russen den Deutschen, wie man in einem Winter ohne Kohlen mit Brennholz auskommt. Sie beliefern sie auch mit mageren Lebensmittelrationen aus Vorräten, die von Einheiten der Roten Armee auf Feldern geerntet und gesammelt wurden, die von Junkern und Bauern im Stich gelassen worden waren. Der rachsüchtige Sieger versucht, in der Wüste Ostdeutschlands etwas Leben zu organisieren.

Für die Intelligenz gibt es bestimmt Anziehungspunkte. Das künstlerische Leben in Berlin und in den Provinzen ist vorwiegend dank russischer Unterstützung neu belebt worden. Theater und Konzertgebäude sind bis zum letzten Platz mit deutschem Publikum besetzt. Deutsche Zeitungen in der russischen Zone sind trotz mancher Verärgerung über die Zensur lebendiger und besser gemacht als die Blätter in den anderen Zonen. Sie genießen auch einen gewissen Spielraum der freien Äußerung, unvergleichlich mehr als unter den Nazis – er könnte sogar den Neid eines russischen Journalisten erwecken. Was bei der russischen Militärregierung bis jetzt bemerkenswert war, ist vielleicht nicht das Ausmaß, in dem sie russische totalitäre Methoden nach Deutschland verpflanzt hat, sondern der Umfang, in dem sie sich dessen enthalten hat. [ . . . ]



Quelle: Isaac Deutscher, Reportagen aus Nachkriegsdeutschland. Hamburg: Junius, 1980, S. 129-31. (zuerst auf Englisch erschienen in: The Economist, 27. November 1945).

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