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Emil Schorsch über seine Aufgaben als Rabbiner in Hannover (Rückblick 1975)


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Meine Aufgaben als Rabbiner in Hannover umfaßten laut Kontrakt das „Dezernat für den Religionsunterricht“, das Predigen in der Synagoge, die Aufsicht über das Kaschrutwesen und die Leitung der Gemeindebibliothek. Die Aufsicht über den Religionsunterricht brachte zuerst viel Arbeit, war aber eine großenteils klar umrissene Aufgabe. Wir formierten 28 Religionsklassen für die ungefähr 650 jüdischen Schüler der Volksschulen und höheren Schulen Hannovers. Für die Volksschulklassen hatten wir eine besondere Religionsschule in der Lützowstraße, wo das Gemeindegebäude stand. Diese Schüler hatten keine Schwierigkeiten, zweimal während der Woche und am Sonntagmorgen zum Religionsunterricht zu erscheinen. Für die Schüler der höheren Schulen war das schwieriger, weil verhältnismäßig wenige jüdische Schüler in jeder Schule waren. So hatten wir den Gedanken aufgegeben, Klassen in den verschiedenen höheren Schulen einzurichten, sondern vereinigten diese Schüler am Nachmittag in einer der Schulen, die für diesen Zweck ausgewählt worden war.

Das Resultat war nicht gut. Die Schüler hatten das Gefühl, daß die ganze Angelegenheit des Religionsunterrichts nicht ernst genommen werden müßte. Es war sehr schwer, die daraus folgende Unregelmäßigkeit des Unterrichtsbesuches zu bekämpfen. Wir hatten selbstverständlich einen Lehrplan ausgearbeitet, und alle mit dem Religionsunterricht verbundenen Fragen wurden in besonderen Lehrversammlungen diskutiert. Wir führten sogar Versammlungen aller Lehrer der Provinz von Hannover ein, die sehr gut besucht wurden. Nichtsdestoweniger hatte es keinen Zweck, sich vorzutäuschen, daß der Religionsunterricht- sowohl das Hebräische als auch der geschichtliche und der theoretische Teil- viel zur Vertiefung des jüdisch-religiösen Bewußtseins beitrug. Die Ursache war, daß man kaum eine wirkliche Beeinflussung der Persönlichkeit erwarten kann, wenn das häusliche Leben der Schüler dem Unterrichtsideal widerspricht. Und es konnte kein Zweifel sein, daß die jüdische Religion nur in ganz geringem Umfang als Maßstab für das Leben der Eltern diente, vielleicht nur gerade soweit, wie es ihnen mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit notwendig erschien, wenngleich sie hierüber nachdachten. [ . . . ]



Quelle: Jüdisches Leben in Deutschland, Dritter Band: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918-1945, hrsg. und eingeleitet von Monika Richarz. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1982, S. 183-84.

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