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Emil Fackenheim erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in Halle, 1916-1933 (Rückblick)


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Das Datum: der 24. Mai 1924, der Anlass: der zwanzigste Geburtstag des “HTV 04”. Der Hallische Turnverein war ein jüdischer Sportclub, den mein Vater 1904 gegründet oder mitbegründet hatte und dessen führender Geist er immer noch war, zusammen mit seinem Freund Curt Lewin. Knapp ein Jahrzehnt später, 1933 nämlich, sollte der HTV 04 äußerst wichtig werden. Bis zum Ende behielt mein Vater das Heft in der Hand. Für ihn und meine Mutter war dieses Ende die Flucht nach England am 27. August 1939, vier Tage vor dem Ausbruch des Krieges. Für die Juden, die zurückblieben und in der Falle saßen, war das Ende die Katastrophe. Meine Eltern gelangten mit dem letzten Flugzeug heraus.

Der Geburtstag von 1924 wurde mit einem Schauturnen begangen, einer Vorführung der sportlichen Fähigkeiten und des turnerischen Könnens der Jugend für die Alten, wie Eltern – solche, die weniger sportlich waren als mein Vater, der selber teilnahm –, Onkel, Tanten und andere. Da das Wetter an diesem Sonntagmorgen mild war, fand das Schauturnen draußen statt, im Hof der Schule, die für den Anlass gemietet worden war. Ich besitze immer noch das Photo, das bei dieser Gelegenheit aufgenommen wurde. Mein Vater, der ewige Vorturner, steht in der Mitte; hinter ihm in der Mitte befindet sich Curt Lewin, sein Freund und der ewige Präsident, als einziger im Anzug. Auf dem Bild sind die Sportler in einer Riege, einer Reihe, der Größe nach aufgestellt, so wie es in Deutschland üblich war. Mein zwölfjähriger Bruder Ernst Alexander steht in der ersten Reihe, fast in der Mitte. Mein Bruder Wolfgang und ich stehen am Rand. Mit acht Jahren war ich der zweitjüngste. Er war als Sechsjähriger der Jüngste.

Das Schauturnen war schon im Gange, als zwei Nazis am Tor anhielten. Einer machte einen fiesen antisemitischen Witz. Mein Vater ging zu ihm und gab ihm eine Ohrfeige. Der andere Nazi rannte davon, kam jedoch kurz danach zurück mit ungefähr fünfzig anderen, alle mit Knüppeln bewaffnet. In dem Tumult, der entstand, flohen alle Besucher des Schauturnens halsüberkopf in das Schulgebäude, Kinder, Eltern, alle anderen, außer Wolfgang und mir. Uns war gesagt worden, wir sollten strammstehen, und keiner hatte “Rührt euch” gesagt. Ich erinnere mich noch an den einen Nazi, der vor uns stand und nicht wusste, was er mit seinem Knüppel und uns Kindern machen sollte.

Unsere Mutter, die uns verzweifelt im Gebäude gesucht und nicht gefunden hatte, kam herausgerannt und zog uns – mit Mühe, denn noch immer hatte niemand “Rührt euch” gesagt – in Sicherheit. Jemand rief die Polizei, die auch ordnungsgemäß erschien. Ebenfalls ordnungsgemäß wurden die Knüppel der Nazis konfisziert. Das war aber auch alles. Keiner wurde festgenommen. Keine Namen wurden notiert im Hinblick auf eine Anklage vor Gericht wegen Körperverletzung. Auf diese Weise konnte ich bereits früh meine Erfahrung mit der Weimarer Republik machen, die, wie es der Philosoph Leo Strauss später formulieren sollte, das “traurige Spektakel einer Justiz ohne Schwert oder einer Justiz, die nicht imstande war, das Schwert zu benutzen” darstellte.

Die Unfähigkeit der Weimarer Regierung, dem Recht Geltung zu verschaffen, wurde besonders offensichtlich in ihrem Umgang mit der Rechten, die nicht nur Generäle und Junker (deren Loyalität der Republik gegenüber gelinde gesagt fragwürdig war) einschloss, sondern auch die durch die Straßen marodierenden Nazi-Schläger, die keinen Hehl aus ihrer Absicht machten, die Weimarer Republik und alles, wofür sie stand, zu zerstören. Ein Jahr vor unserem Erlebnis mit dem HTV 04 war Hitler, der nach seinem Putschversuch von 1923 wegen Hochverrats angeklagt worden war, gestattet worden, seinen Prozess in eine Zirkusvorführung zu verwandeln. Nachdem er eine absurd kurze Gefängnisstrafe erhalten hatte, erlaubte man ihm, einen Besucherstrom von Bewunderern zu empfangen und einen Sekretär zu beschäftigen, den späteren Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess. Diesem diktierte er seine Texte, in aller Muße und allem Komfort, den der Gefängnisaufenthalt bot. Ein paar Jahre später, aber noch in der Zeit der Weimarer Republik, wurde in unserer Schulklasse ein Geschichtstext durchgenommen, in dem der Hitler-Putsch von 1923 beschrieben wurde. Nur ganz kurze Zeit später sollte der Führer Weimar selbst zerstören. Unser Weimar-Text beschrieb ihn jedoch als “Heißsporn” – nicht als Verräter oder Kriminellen, sondern einfach nur als einen Kerl, der sich etwas zu ungestüm an eine gute Sache machte.

Es gab noch andere Beispiele für derartiges Ungestüm in meiner Schule. Einmal erklärte der Direktor, dass der Versailler Vertrag wenigstens eine gute Sache bewirkt hätte: die Weimarer Republik war geeinter, als das Kaiserreich es gewesen war; bald schon würde sie es noch mehr sein – ein Volk, ein Reich, ein Führer.

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Quelle: Emil Fackenheim, An Epitaph for German Judaism, From Halle to Jerusalem. Madison: University of Wisconsin Press, 2007, S. 3-5.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Katharina Böhmer

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