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Martin Luthers „Turmerlebnis” (1545)

Martin Luther verfasste 1545 die folgende autobiographische Einleitung für eine Sammlung seiner lateinischen Schriften. Sie beschreibt seine Erleuchtung darüber, dass christliche Erlösung allein vom Glauben abhängt [sola fide], dass sie nicht Resultat menschlicher Taten, sondern allein der Gnade Gottes ist [sola gratia], wie im Alten Testament versprochen und im Neuen Testament erfüllt [sola scriptura]. Zwar gehen die Meinungen über den Wahrheitsgehalt der Lutherschen Darstellung auseinander, dennoch ist seine Einleitung, die sein berühmtes „Turmerlebnis“ enthält (und für welches dieses Dokument das einzige Beweisstück ist) als autobiographische Darstellung interessant. Dieser Text wurde zur Grundlage vieler Darlegungen zu Luthers „Durchbruch“ zum Kern seiner Theologie im 20. Jahrhundert.

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Martin Luther grüßt den frommen Leser.

Heftig und lange habe ich mich gegen die gesträubt, welche die Herausgabe meiner Bücher wünschten – oder richtiger: des Durcheinanders meiner nächtlichen Schreibereien. Einerseits wollte ich nicht, daß die Arbeiten der Alten von meinen Neuigkeiten zugedeckt würden und der Leser sich abhalten ließe, jene zu lesen. Anderseits sind jetzt durch Gottes Gnade sehr viele systematisch geordnete Bücher vorhanden, aus denen die Loci communes des Philippus herausragen. Durch sie kann ein Theologe und Pfarrer vorzüglich und überreichlich gebildet werden, dazu tüchtig zu sein, die Lehre der Frömmigkeit zu predigen, zumal jetzt auch die heilige Schrift selbst fast in jeder Sprache zu haben ist. Meine Bücher sind jedoch, wie es der Mangel an Ordnung in den Ereignissen mit sich brachte, ja erzwang, genauso selbst ein recht rohes und ungeordnetes Chaos, das zu ordnen sogar mir jetzt nicht leicht fiele.

Diese Überlegungen ließen mich wünschen, alle meine Bücher wären für immer vergessen und begraben, um besseren Platz zu machen. Doch lagen mir andere mit ihrer Unbedenklichkeit und aufdringlichen Hartnäckigkeit in den Ohren: Es werde darauf hinauslaufen, daß, wenn ich zu meinen Lebzeiten die Herausgabe nicht gestatte, dann trotzdem nach meinem Tode ganz sicher diejenigen sie herausbringen werden, die überhaupt nichts mehr von den Ursachen und dem Verlauf der Vorgänge wüßten, und so würden aus einer Verwirrung bloß sehr viele weitere. Es siegte dann, wie gesagt, ihre Bedenkenlosigkeit, so daß ich die Herausgabe erlaubte. Hinzu kam gleichzeitig der Wille und Befehl unseres erlauchtesten Fürsten Johann Friedrich, Kurfürsten usw., der den Druckern befahl, ja sie geradezu zwang, die Ausgabe nicht nur zu drucken, sondern sogar zu beschleunigen.

Doch vor allem bitte ich den geneigten Leser – und ich bitte um unsres Herrn Jesu Christi willen –, er möge dies mit Verständnis, ja mit viel Nachsicht lesen. Und er sei sich bewußt, daß ich einst ein Mönch und äußerst fanatischer Papist gewesen bin, als ich diese Sache in Angriff nahm, so trunken von den päpstlichen Dogmen, ja geradezu in ihnen ersoffen, daß ich, hätte ich gekonnt, ohne Zögern bereit gewesen wäre, alle, die dem Papst auch nur mit einer Silbe den Gehorsam verweigerten, zu töten oder doch mit denen, die sie töten, mitzutun und ihnen beizupflichten. In eben dem Maße war ich ein Saulus, wie es bis heute noch viele sind. Ich war nicht so eisige Kälte in Person bei der Verteidigung des Papsttums, wie dies Eck und seinesgleichen gewesen sind, die mir eher ihrem eigenen Bauch zuliebe den Papst zu verteidigen schienen, als daß sie die Sache ernsthaft betrieben, ja die mir heute noch vorkommen, als lachten sie über den Papst, wie richtige Epikuräer. Ich betrieb die Sache mit Ernst als einer, der den Jüngsten Tag entsetzlich fürchtete und dennoch aus innerstem Herzensgrund wünschte, selig zu werden.

So wirst du in diesen meinen früheren Schriften entdecken, wie vieles von Gewicht ich dem Papst noch aufs demütigste zugestanden habe, das ich späterhin und jetzt immer noch für höchste Gotteslästerung und Greuel halte und das ich verwünsche. Du wirst also, geneigter Leser, diesen Irrtum oder, wie sie verleumderisch sagen: diesen Widerspruch, der Zeit zuschreiben und meiner Unerfahrenheit. Ich war zuerst ganz allein und war für die Behandlung so großer Streitsachen zweifellos höchst ungeschickt und zu wenig gelehrt. Bin ich doch zufällig, nicht mit Willen und Absicht, in dieses Getümmel geraten. Gott selbst rufe ich zum Zeugen an!

Nun denn, als im Jahre 1517 in diesen Gegenden Ablaß verkauft – ich wollte sagen: verkündigt – wurde um schändlichsten Geldgewinns willen, da war ich Prediger und, wie man sagt, ein junger Doktor der Theologie und fing an, den Leuten abzuraten und sie davon abzuhalten, dem Geschrei der Ablaßprediger ihr Ohr zu leihen: Sie hätten Besseres zu tun. Und ich meinte, dessen sicher zu sein, daß ich dabei zum Schutzpatron den Papst hätte, auf dessen Vertrauenswürdigkeit ich mich damals noch völlig verließ; verurteilt er doch in seinen Erlassen klar und deutlich die Maßlosigkeit seiner Steuereinzieher, wie er die Ablaßprediger nennt.

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