GHDI logo


Alfred Döblin über die deutsche Bevölkerung (1946)

Der Schriftsteller Alfred Döblin, der 1933 erst in die Schweiz, dann nach Frankreich und weiter in die USA emigriert und seit 1936 französischer Staatsbürger ist, kehrt im November 1945 als Mitarbeiter der französischen Besatzungsverwaltung nach Deutschland zurück. Er kritisiert die restaurativen Tendenzen in Deutschland und beschreibt seine Landsleute nach zwölf Jahren NS-Diktatur und Krieg als entpersönlichter, uniformer und geistig schwerfälliger als zuvor. Sie lassen sich kaum auf die Erkenntnis der Verbrechen des NS-Regimes ein und mißtrauen alliierter Aufklärung darüber. Die Besatzung ermöglicht es ihnen, in ihren schlechten Lebensbedingungen nicht eine Folge des Krieges zu sehen, sondern die Alliierten dafür verantwortlich zu machen – so wie nach dem Ersten Weltkrieg von der politischen Rechten die Revolution nicht als Ergebnis sondern Ursache der deutschen Niederlage: als „Dolchstoß“ der Heimat in den Rücken der Armee diskreditiert wurde.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


[ . . . ]

Die Menschen sind dieselben, die ich 1933 verließ. Aber es ist allerhand mit ihnen geschehen. Ich stelle es im täglichen Umgang mit ihnen fest. Sie haben dieselben Interessen, Allüren wie früher, haben unverändert Sinn für Musik, viele besitzen Kenntnisse. Aber sie sind im Ganzen weniger mannigfaltig, weniger persönlich als früher. Sie erscheinen mir, jedenfalls mir, der von draußen hereinkommt, viel uniformer. Sie haben eben zwölf Jahre wenig Einflüsse von außen erfahren, und diese Einflüsse waren stark kontrolliert. Eine gleichsinnige Propaganda, ein ununterbrochener Druck von behördlicher Propaganda lastete auf ihnen und nivellierte sie, ob sie gebildet oder ungebildet waren.

Ich habe den Eindruck und ich behielt ihn die ganze erste Zeit hindurch: Ich habe ein Haus betreten, das voller Rauch steht –, aber die Bewohner merken nichts davon.

Neu ist mir eine gewisse geistige Schwerfälligkeit. Sie sind wie eingerostet. Sie verfügen über ein kleines Repertoire an Vorstellungen, das man ihnen eingeprägt hat, und damit arbeiten sie, und man kann sie schwer daraus ziehen. Das hat das Regime hinterlassen. Und darum prallen von ihnen auch alle Aufrufe ab, die man an sie richtet, und die Broschüren zur Aufklärung wirken darum kaum und werden ablehnend und empört gelesen, als wenn der Diktator noch im Lande wäre. Und darum kann man auch bei Diskussionen über die Schuldfrage mit ihnen nicht weiter kommen. Darum sperren sie sich auch gegen politische Unterhaltungen mit Leuten, die eine andere Auffassung haben. Sie sind verstört, gequält und wollen zufrieden gelassen sein. Wie begreiflich. Wie kommt man hier nun weiter? Vor allem mit Vernunft und nicht drängen, kommen lassen, die Umstände wirken lassen. An sich könnten Berichte und Daten aus den Konzentrationslagern und von andern Greueln, wie man sie jetzt publiziert, aufklärend wirken. Aber man ist einfach nicht geneigt, sie zu glauben, da es in der Regel Fremde sind, die diese Mitteilung machen. Ebenso könnte ja auch der Anblick der zerstörten Städte wirken. Aber nun ist da die Okkupation. Okkupation ist den Anhängern des alten Regimes, die es natürlich in Massen gibt, als Geschenk in den Schoß gefallen. Okkupation kann benutzt werden, wie man nach 1918, nach dem Ersten Weltkrieg die Revolution und ihre Vorgänge benutzte, zur Verhinderung der Aufklärung, zur Bildung einer neuen Dolchstoßlegende. Während der Okkupation, während sich sukzessive die Kriegsfolgen auswirken –, was liegt näher, als alle Kriegsfolgen auf die Okkupation zu schieben? So schwierig ist die Situation.

Denkt man an die Lage nach dem Ersten Weltkrieg, so erscheint die unruhige Zeit jener Jahre von geradezu freskenhafter Klarheit, verglichen mit dem Bild von heute. [ . . . ]



Quelle: Alfred Döblin, „Schicksalsreise“, in Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Olten: Walter-Verlag, 1980, S. 382f. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite