GHDI logo


Wut in der Bevölkerung gegen die Kürzung des Arbeitslosengeldes (9. August 2004)

Ein Journalistenteam beschreibt die überraschende Welle von Wut und Protesten der Bevölkerung gegen die von der Regierung eingesetzte Hartz-Kommission, die eine Kürzung des Arbeitslosengeldes empfiehlt, was reformorientierte Politiker einschüchtert und letztlich nur den Postkommunisten im Osten und den Ultralinken im Westen zugute kommt.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 4


Die große Hartz-Hysterie

Deutschland in Angst: Die geplanten Sozialkürzungen versetzen nicht nur die wirklich Betroffenen in diffuse Untergangsstimmung. Die Strategen von CDU und FDP gehen bereits auf Distanz – zu sich selbst. Hauptprofiteur der lustvoll geschürten Panik ist die PDS.


[ . . . ]

„Hartz IV muss weg.“ Durch das Land schwappt eine sommerliche Empörungswelle, die ihren Ausgangspunkt in den tristen Wohnquartieren von Leipzig-Grünau, Berlin-Marzahn und Hamburg-Steilshoop nahm und von dort nahezu alle Schichten der Bevölkerung erfasste. Die schon bisher ungeliebte Reformagenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, in der die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die zentrale Rolle spielt, stößt auf erbitterten Widerstand, der mit den tatsächlich verabschiedeten Kürzungen kaum zu erklären ist. Denn nicht allen, die heute staatliche Transferleistungen beziehen, wird es ab Januar schlechter gehen. Erfolg oder Misserfolg der Reformen sind frühestens in einem Jahr zu besichtigen, wenn die Arbeitslosenzahl, wie von Schröder versprochen, sinkt. Oder, wie von seinen Kritikern befürchtet, auf neue Rekordstände klettert.

Doch die momentane Empörungswelle duldet kein Innehalten. Sie hat die Argumente der Reformer fortgespült und ist nun dabei, auch die Reformbefürworter aus den Reihen von Union und FDP zu erfassen. Nicht ohne Grimmen wird im Kanzleramt registriert, dass sich unter der Wucht der Wut all jene von Schröder abwenden, die gestern noch mit ihm das Hartz-Paket durch den Bundesrat gepaukt hatten. Deutschland, so scheint es, kennt keine Parteien mehr – nur noch Hartz-Gegner. Vom „Raubzug gegen die Langzeitarbeitslosen“ spricht CDU-Präside Hermann-Josef Arentz. Eine „Politik gegen den historischen Kern der Sozialdemokratie“ hat SPD-Sozialexperte Ottmar Schreiner ausgemacht. Selbst Politiker, denen der Abbau des Wohlfahrtsstaats bislang gar nicht radikal genug ausfallen konnte, entdecken ihr Herz für die scheinbar oder tatsächlich Gebeutelten.

CDU-Wirtschaftsexperte Friedrich Merz etwa, der gerade noch den Kündigungsschutz komplett abschaffen wollte, kritisiert die Arbeitsmarktreform als „Maut plus Dosenpfand hoch zehn“. CSU-Chef Edmund Stoiber, der im Quartalstakt die Sozialhilfe kürzen will, beklagt eine „soziale Schieflage“. FDP-Chef Guido Westerwelle findet das ganze Vorhaben „sehr weit weg vom Leben“. Vor allem aber offenbaren die Politiker, dass sie bei der Sommerdebatte anscheinend unter einer Art kollektivem Gedächtnisverlust leiden. Denn erst im vergangenen Dezember hatten sie – mit Ausnahme der von der PDS mitregierten Länder – der Reform im Bundesrat zugestimmt: FDP wie SPD, Union wie Grüne. Nun gerieren sich selbst die jeweiligen Parteivorsitzenden so, als hätten sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun: CDU-Chefin Angela Merkel entdeckte in der von ihr wesentlich mitgestalteten Reform den „sozialen Abstieg vieler“. Und Grünen-Chef Reinhard Bütikofer forderte, über die „Anrechnung eigenen Sparvermögens“ noch einmal „nachzudenken“. Mit einem besonders trickreichen Argument versuchen sich derzeit die ostdeutschen Minister-präsidenten Matthias Platzeck (SPD) oder Georg Milbradt (CDU) aus der Verantwortung zu stehlen. Aus Angst vor der Wut ihrer Wähler behaupten sie, im Bundesrat gegen die Reform gestimmt zu haben. Tatsächlich hatten sie ihr Veto aber lediglich gegen die neu geordneten Verwaltungszuständigkeiten eingelegt. Den geplanten Leistungskürzungen stimmten sie ausdrücklich zu.

[ . . . ]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite