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Gerhard Scholem über seine Entscheidung für die Auswanderung im Jahr 1923 (Rückblick 1977)

Mit überwiegender Mehrheit waren die etwa 564.400 (1925) deutschen Juden liberal eingestellt und wurden im Wesentlichen durch den 1893 gegründeten „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) vertreten. Gegen die Auffassung der Liberalen im CV, sich zugleich als Juden und als Deutsche zu fühlen, richtete sich die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD); die Zionisten definierten sich als Angehörige des jüdischen Volkes und strebten die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina an. Hatte die Mitgliedszahl der ZVfD vor dem Ersten Weltkrieg noch unter 10.000 gelegen, so erreichte sie 1922/23 einen Höchststand mit 33.339; durchschnittlich lag sie zwischen 1920/21 und 1929/30 bei ca. 17.500. Den tatsächlichen Schritt, so wie Gershom Scholem nach Palästina auszuwandern, machten aber zwischen 1920 und 1932 nur etwa 2.000 deutsche Juden.

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Die Zionisten in Deutschland bildeten damals [d.h. in den frühen zwanziger Jahren] eine kleine, aber sehr beredte Minorität. Immerhin beteiligten sich 1920 unter den etwa 600 000 Juden doch schon 20 000 an den Wahlen zum Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, was, das Wahlalter berücksichtigend, ein starkes Anwachsen des Einflusses dieser Bewegung seit den Vorkriegsjahren bezeugte. Sie waren in ihrer überwiegenden Majorität bürgerlich gesinnt. Meine Sympathie lag bei den radikalen Kreisen, die das gesellschaftliche Ideal der sich bildenden Kibbuzbewegung vertraten. Als ich noch mit dem roten Verleger Klaus Wagenbach freundschaftlich verkehrte, schrieb er mir vor etwa zwölf Jahren in einem Brief: »Ich habe einige Ihrer früheren Aufsätze gelesen. Sie waren ja damals ein ganz schöner Radikalinski, hihi!« Das anarchistische Element in manchen, keineswegs unwichtigen Gruppen in Israel kam, wie ich schon erzählt habe, meiner eigenen damaligen Position sehr nah. Als ich 1921 in einer Zeitschrift einen Aufsatz eines Hauptführers dieser Gruppen las, der später einer der einflußreichsten, sich streng marxistisch häutenden Möchtegern-Stalinisten wurde, sprach mich seine Definition des zionistischen Gesellschaftideals als »freier Zusammenschluß anarchistischer Bünde« durchaus an. Darüber hinaus darf man sagen, wenn jemand in den frühen zwanziger Jahren aus Deutschland herüberging, geschah das in den seltensten Fällen aus einer politischen, sondern viel eher aus einer moralischen Entscheidung. Es war eine Entscheidung gegen ein als unehrlich empfundenes Durcheinander und ein oft unwürdiges Versteckspiel. Es war eine Entscheidung, für einen uns damals eindeutig erscheinenden Neuanfang, der – ob nun aus religiösen oder säkularistischen Erwägungen begründet – mehr mit Sozialethik zu tun hatte als mit Politik, so fremd das auch heute klingen mag. Die Dialektik, von der ich hier schon gesprochen habe, war uns noch nicht voll bewußt. Natürlich wußten wir damals nicht, daß Hitler kommen würde, aber wir wußten, daß, von der Aufgabe einer radikalen Erneuerung des Judentums und der jüdischen Gesellschaft her gesehen, Deutschland ein Vakuum war, in dem wir ersticken würden. Das war es, was Menschen wie mich und meine Freunde nach »Altneuland« trieb.



Quelle: Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 190-91.

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