GHDI logo


Gershom Scholem über seinen Bruder Werner (Rückblick 1977)

An den vier Söhnen des Berliner Druckereibesitzers Arthur Scholem und seiner Frau Betty zeigen sich die unterschiedlichen politischen Orientierungsmöglichkeiten für deutsche Juden: Reinhold, der älteste Sohn (1891-1985) war Mitglieder der nationalliberalen Deutschen Volkspartei; Erich (1893-1965) war Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei; Gershom Scholem, der jüngste der vier Brüder (1897-1982) wurde Zionist und siedelte 1923 nach Palästina über. Gershoms nächstälterer Bruder Werner (1895-1940) schlug wiederum einen anderen Weg ein: Zwar beschäftigte er sich als 16jähriger im „Jung Juda Kreis“ kurzzeitig mit dem Zionismus, trat aber Ende 1912 der Sozialdemokratischen Arbeiterjugend, 1913 der SPD und – nach der Spaltung der Partei – 1917 dann der USPD bei. Zusammen mit dem linken Parteiflügel wechselte Werner Scholem im Dezember 1920 in die KPD. Als Angehöriger der „ultralinken“ Gruppe fiel er aber den innerparteilichen Machtkämpfen zum Opfer und wurde am 5. November 1926 aus der KPD ausgeschlossen. Nach dem Reichstagsbrand kam Werner Scholem 1933 in „Schutzhaft“, ab 1935 dann in die Konzentrationslager Torgau, Dachau (1937) und Buchenwald (1938). Am 17. Juli 1940 wurde er in Buchenwald ermordet.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Mit meinem Bruder Werner hatte ich seit meiner Rückkehr aus Bern wieder mannigfaltige Kontakte. Gleich nach Kriegsende hatte er sich, damals noch auf Seiten der USPD, in die Politik gestürzt. Auf meinem Weg nach Berlin besuchte ich ihn in Halle, wo er Redakteur des lokalen Parteiblatts war. Die Diskussion, ob ein Mensch wie er wirklich als Vertreter des Proletariats – die Leunawerke waren eine Hochburg der USPD – auftreten könne, flammte auf. Ich ging mit ihm in eine Versammlung, wo er sprach, sah mich um und hörte etwas hin. Mein Bruder war demagogisch nicht unbegabt. Bilde dir doch keine Schwachheiten ein, sagte ich zu ihm, sie klatschen nach deiner Rede und werden dich wohl (worauf sein Ehrgeiz ging) bei den nächsten Wahlen zum Abgeordneten wählen, aber hinter deinem Rücken bleibst du, was du bist. »Der Jude [nicht: der Genosse!] redet ja ganz schön«, hörte ich einen der Arbeiter zu seinen Kollegen sagen.



Quelle: Gerhard Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997, S. 182-83.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite