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Gershom Scholem über sein Studium in München (Rückblick 1977)

In den 1920er Jahren wurden Judaistische Themen an den deutschen Universitäten noch im Rahmen anderer Fächer behandelt, etwa in evangelischer und katholischer Theologie oder in Orientalistik bzw. Semitistik. Lehrstühle in Judaistik entstanden an deutschen Universitäten erst in den 1960er Jahren.

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Überhaupt kam es damals bei mir zu einem Bruch mit der Phänomenologie Husserls, für die ich einige Jahre, von den »Logischen Untersuchungen« beeindruckt, starke Sympathie empfunden hatte. Die Vorlesungen des Husserlschülers Wilhelm Pfänder entfremdeten mich dieser Denkweise völlig. Er brachte es fertig – ich bin dabei gewesen – in öffentlicher Vorlesung die Existenz Gottes (an der ich nie gezweifelt habe) auf phänomenologische Weise sichtbar zu machen. Das war mir nun zuviel. Sein Seminar, in dem mehrere Stunden lang unter Assistenz einiger sehr scharfsinniger Köpfe, ich entsinne mich noch an Maximilian Beck, mit tödlichem Ernst darüber verhandelt wurde, ob ein gebratener Fisch ein Fisch sei, tat das seine, mich aus diesem Kreise zu vertreiben. Freilich muß ich sagen, daß die Denkart von Benjamin, mit der ich in diesen Jahren in so enge Berührung kam, und die denkbar weit von dem, was man Universitätsphilosophie nennen könnte, entfernt war, mich daran hinderte, Universitätslehrer der Philosophie, soweit sie keine Historiker waren, besonders ernst zu nehmen.

So verlegte ich auf Bäumkers Rat mein Hauptfach zur Semitistik, wo Fritz Hommel, in dessen arabischen Übungen und Seminar ich schon saß, mich sehr freundlich aufnahm, obwohl er vor mir nur ein einziges Mal in seiner langen Laufbahn eine judaistische Dissertation angenommen hat. Bäumker und Hommel waren beide schon über 65, der eine streng katholisch, der andere ebenso streng protestantisch, ein tief frommer Lutheraner. Hommel war in der Hauptsache Assyriologe, erließ mir aber in großer Liberalität gerade diesen Teil der Semitistik und verlangte nur, daß ich außer den mir geläufigen Hebräisch und Aramäisch noch Arabisch und Äthiopisch ins Hauptfach hineinnähme. Er stand in seinem wissenschaftlichen Leben im Mittelpunkt vieler Polemiken. Die zweieinhalb Jahre, die ich bei ihm studiert habe, standen wir auf bestem Fuß.

In dem ersten Wintersemester in München kündigte der katholische Alttestamentler Göttsberger »Lektüre des Babylonischen Talmud« als Übung an. Ich ging mit zwei anderen jüdischen Studenten hin, um zu sehen, wie das gehen würde. Die anderen Hörer waren katholische Seminaristen. Der Text des Talmud, muß man wissen, hat keine Interpunktion, und es gehört zu den Hürden beim Talmudstudium, zu unterscheiden, ob man eine Aussage oder eine Frage vor sich hat. Der Professor machte gleich am Anfang einen schweren Schnitzer. Einer von uns meldete sich und sagte: »Herr Professor, das ist kein Aussage-, sondern ein Fragesatz.« »Woher wissen Sie das?« fragte der Professor. »Das steht schon bei Raschi«, sagte mein Kollege. »Rabbinische Spitzfindigkeiten«, beschloß der Professor die Diskussion. So wußten wir erheitert, daß bei diesem Herrn nichts zu lernen war.



Quelle: Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 152-53.

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