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Denkschrift des preußischen Innenministeriums über die nationalsozialistische Agitation (Mai 1930)

Ende April 1930 wurde Joseph Goebbels Reichspropagandaleiter und leitete mit seiner Propagandastrategie den Aufstieg der Partei zur Massenbewegung ein. In dieser Denkschrift vom Mai berichtet der preußische Innenminister Heinrich Waentig (1870-1943) über das Ausmaß der nationalsozialistischen Propaganda und Agitation, über deren Struktur und Strategie die preußische Regierung zu diesem Zeitpunkt offensichtlich eingehend informiert war. Waentig, ein SPD-Mitglied und Ökonomieprofessor, war erst seit März 1930 im Amt und sollte bereits im Oktober des Jahres wieder zurücktreten.

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Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht selbst in engbegrenzten örtlichen Bezirken mehrere Versammlungen stattfinden. Eine in den einzelnen Gauen sorgfältig aufgezogene Propagandazentrale sorgt dafür, daß Redner und Vortragsthema den jeweiligen örtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt werden. Die Reichs- und Landtagsabgeordneten der Partei und eine Fülle sonstiger Parteiredner sind täglich unterwegs, um diese Agitation zu betreiben und auszubauen. Durch systematische Schulungskurse, durch Fernunterricht und neuerdings auch durch die am 1. Juli 1929 eingerichtete Rednerschule der NSDAP werden solche Agitatoren Monate, ja jahrelang für diese Aufgabe gründlich ausgebildet; im Falle ihrer Bewährung erhalten sie eine parteiamtliche Anerkennung als Redner der Partei und werden unter Verpflichtung von mindestens dreißig Versammlungsreden innerhalb von acht Monaten durch Gewährung eines besonderen Entgelts von zwanzig Reichsmark und darüber je Abend, außer den entstehenden Unkosten, zu ihrer Tätigkeit besonders angespornt. Rednerische Gewandtheit in Verbindung mit geschickt auf die jeweiligen Zuhörer zugeschnittenen Vortragsgegenständen, die auf dem flachen Lande und in den kleineren Städten vorwiegend rein wirtschaftlich eingestellt sind, sichern nach den Beobachtungen den Versammlungen fast durchweg überfüllte Säle und den Beifall der Teilnehmer. Versammlungen mit einer Besucherzahl von tausend bis fünftausend Personen sind in größeren Städten eine tägliche Erscheinung; oft müssen sogar eine oder mehrere Parallelversammlungen stattfinden, weil die vorgesehenen Versammlungslokale die Zahl der Besucher nicht fassen können. [ . . . ] Soweit angängig, wird bei solchen Gelegenheiten das Netz der Ortsgruppen erweitert, oder es werden wenigstens Vertrauensleute gewonnen, die durch eine fast überall beobachtete rege Propaganda von Mund zu Mund den Boden für die Ausbreitung der Bewegung vorbereiten sollen. Oft setzen sich solche Werbetrupps tagelang an einem bestimmten Ort fest und suchen durch die verschiedenartigsten Veranstaltungen, zu denen auch Platzkonzerte, Sportfeste, Zapfenstreich, an geeigneten Orten auch geschlossene Kirchgänge gehören, die ansässige Bevölkerung für die Bewegung zu begeistern. An anderen Orten wieder wird ein auswärtiger Propagandaredner eine gewisse Zeit stationiert; mit einem ihm zur Verfügung gestellten Kraftwagen bereist er dann von seinem Standquartier planmäßig die Umgegend. Auch nationalsozialistische Theatergruppen, die von Ort zu Ort wandern, dienen den gleichen Zielen.



Quelle: Ernst Deuerlein, Der Aufstieg der NSDAP in Augenzeugenberichten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1974, S. 309-10.

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