GHDI logo


Felix Gilbert zum Thema Berlin als Kulturhauptstadt (Rückblick 1988)

Berlin war sowohl in politischer als auch kultureller Hinsicht Hauptstadt der Weimarer Republik. Deutlich zeigte sich das etwa an der Berliner Theaterlandschaft: So gab es hier 1927 49 Theater mit über 47.000 Plätzen; daneben bestanden 1929 75 Kabaretts und Kleinkunstbühnen. Der auch international gefragte Regisseur Max Reinhardt leitete seinen eigenen Häuser, die „Reinhardt-Bühnen“ (v.a. das Große Schauspielhaus, das Deutsche Theater und die Kammerspiele), nicht nur künstlerisch, sondern auch als Theaterunternehmer. Noch stärker politisch und gesellschaftskritisch akzentuiert waren die Arbeiten von Erwin Piscator und Bertolt Brecht.

Druckfassung     Dokumenten-Liste letztes Dokument im vorherigen Kapitel      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Vor allem war Berlin aber eine geistig aufregende Stadt. Die Isolierung zuerst im Weltkrieg und dann in den Nachkriegsjahren hatte ein Verlangen geweckt, mit den Bewegungen der Moderne, die außerhalb Deutschlands stattgefunden hatten, Schritt zu halten und Berlin zu einem Zentrum des Neuen in Kunst, Musik und Literatur zu machen. Berlin war betont »international«, und ausländische Besucher von Rang wurden begeistert begrüßt. Ich habe Vorträge von Toynbee, Huizinga und Rabindranath Tagore an der Universität gehört, und ich erinnere mich an André Gide, wie er bei der Gedenkfeier für Rilke in der Mittelloge saß.

Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Berlin immer ein Zentrum des musikalischen Lebens gewesen; ich kann mir aber kaum vorstellen, daß die Aufführungen jemals so brillant waren wie in den zwanziger Jahren. Berlin hatte drei große Opernhäuser für ernste Opern, und eines, die Krolloper, widmete sich mit besonderer Intensität der modernen Musik, die in oft revolutionären Inszenierungen vorgestellt wurde. Drei hervorragende Dirigenten leiteten die Orchester dieser Opernhäuser und die Philharmonischen Konzerte: Furtwängler, Bruno Walter und Klemperer. Obwohl ich in späteren Jahren einige Vorbehalte gegen Furtwänglers Interpretationen hatte, war seine Art, Beethoven zu dirigieren, damals nicht zu übertreffen. Das größte Musikerlebnis, an das ich mich erinnere, fand in der großen, überfüllten Philharmonie statt: Pablo Casals saß sehr klein und einsam auf der gewaltigen Bühne und spielte den ganzen Abend Bach.

Doch das Beste, was Berlin in diesen Jahren zu bieten hatte, war und blieb das Theater; die neuen Stücke und die revolutionären Regisseure waren das Hauptgesprächsthema vieler Unterhaltungen. Ich bezweifle, daß im Winter eine einzige Woche verging, in der ich nicht wenigstens einmal im Theater war; wenn ich am Ende des Monats mein Budget überzogen hatte, gab ich mich mit einem Stehplatz zufrieden. Ich glaube nicht, daß irgendeine Stadt jemals so viele Bühnen hatte, die gleichzeitig spielten, wie Berlin in den zwanziger Jahren. Es gab drei Staatstheater; vier Theater standen unter der Leitung von Max Reinhardt, mehrere unter der Intendanz von Barnowsky, und es gab noch zahlreiche andere Theater, sowohl für ernste Stücke als auch für Gesellschaftskomödien.

Wenn ich in Erinnerungen an das Berliner Theater dieser Jahre schwelge, bin ich in Gedanken gleich bei einer Schauspielerin, nach der ganz Berlin verrückt war – und ich nicht weniger als alle anderen: Elisabeth Bergner. Ich glaube, ich habe sie in jedem Stück gesehen, in dem sie während dieser Zeit aufgetreten ist, selbst in einer Rolle, die sie nicht öfter als vier- oder fünfmal spielte, weil die Inszenierung des Stücks – Die Kameliendame – ein Mißerfolg war. Man hat heute vergessen, daß Elisabeth Bergner nicht nur die anmutige und betörende Heldin in Shakespeares Komödien war oder die kindliche Johanna von Orléans von Shaw, sondern auch eine große Interpretin schwieriger psychologischer Rollen, wie sie in Strindbergs Tragödien oder in O’Neills Dramen vorkommen.

Elisabeth Bergner war freilich nicht die einzige große Schauspielerin in diesen Jahren auf den Berliner Bühnen. Die Liste reicht von Maria Orska in Frank Wedekinds Stücken – voller Sex ohne Liebe – über Tilla Durieux in Shaws Pygmalion, Helene Thimig als österreichische Aristokratin in Hofmannsthals Der Schwierige bis zu Marlene Dietrich, die in Smoking und Zylinder eine breite Treppe herunterschritt.

Wenn die Schauspieler ausgezeichnet waren, so waren es die Inszenierungen nicht weniger. Max Reinhardt war der große Regisseur dieser Jahre; in seinem riesenhaften Großen Schauspielhaus – einem in ein Theater umgewandelten Zirkus – gab er an einem Abend einen tragisch stilisierten Oedipus und am nächsten Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, erheiternd durch Anspielungen auf Ereignisse der Gegenwart. Andere Regisseure wagten Shakespeare und Schiller ohne gemalte Kulissen und in »zeitlosen« Kostümen aufzuführen, so daß nichts von den Worten und deren Sinn den Zuschauer ablenkte. Auf diese Weise wurden den traditionellen Klassikern zwei neue hinzugefügt: Kleists Penthesilea und Büchners Dantons Tod.

Das Theater in Berlin stand im Mittelpunkt des Interesses nicht nur, weil es häufig künstlerisch aufregend, sondern auch, weil es hochpolitisch war: Das Theater verachtete Traditionen und war ein Ort der Kritik an der Gesellschaft; hier wurde jede Einschränkung der Freiheit angeprangert. Diesem Zweck dienten nicht nur moderne Stücke wie die von Ernst Toller, Georg Kaiser und Carl Zuckmayer, den erfolgreichsten unter den jungen Schriftstellern, sondern auch klassische Stücke wie Schillers Don Carlos oder Hauptmanns nun auch schon klassisch werdende Weber, die, neuartig inszeniert und großartig gespielt, plötzlich für die Gegenwart geschrieben zu sein schienen.

Die großartigste, unvergeßliche Vorstellung, in der Kunst und Politik vereint waren, war Brechts und Weills Dreigroschenoper, die jahrelang vor gefüllten Häusern gespielt wurde und die ich drei- oder viermal gesehen haben muß. Sie zeigte das düstere, nahezu hoffnungslose Bild einer Welt, in der das Leben des einzelnen und der Gesellschaft von der Korruption beherrscht war. Aber es gab ein Happy-End: der reitende Bote des Königs erscheint im letzten Augenblick und rettet den Helden vor der Hinrichtung.

Meine Beschreibung Berlins in den Zwanzigern läuft darauf hinaus, daß die Menschen mehr und mehr das Herannahen einer bösen Macht fühlten, den Zusammenbruch eines Daseins, auf das sie ihre Hoffnungen gesetzt hatten. An diesem Bild ist eines irreführend, und das habe ich wohl nicht klar genug gemacht: wie auch immer wir über die Zukunft dachten, nie gaben wir die Hoffnung auf, daß am Ende der reitende Bote des Königs erscheinen werde.



Quelle der deutschen Übersetzung: Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945. Berlin: Wolf Jobst Siedler Verlag, 1989, S. 95-98.

Quelle des englischen Originaltexts: Felix Gilbert, A European Past. Memoirs, 1905-1945. New York and London: W.W. Norton & Company, 1988, S. 86-89.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite