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Arnold Zweig zur Kunst und Politik (1921)

Der deutsch-jüdische Schriftsteller Arnold Zweig (1887-1968) beschreibt in diesem Textauszug die stimulierende Wirkung, welche die Erfahrung politischer Unruhen und Umbrüche und selbst politischer Gewalt für das kreative Schaffen haben könnte. Zweig selbst, der durch seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg zum Pazifisten wurde, war stark von den politischen Ereignissen seiner Zeit geprägt. So musste er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 aus Deutschland fliehen, was ihn zunächst in die Tschechoslowakei, dann in die Schweiz, Frankreich und schließlich nach Palästina brachte. Konflikte mit national-jüdischen Gruppen zwangen ihn erneut zur Auswanderung, sodass er 1948 nach Deutschland zurückkehrte und sich in Ost-Berlin niederließ. Als überzeugter Kommunist sollte er später zu einem der intellektuellen Aushängeschilder der DDR werden.

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Aber gibt es denn jemanden, der ernsthaft daran zweifelt, daß diese Epoche, die jetzt beginnt, und deren zerstörende Kraft, an Reichen und Klassen hinlänglich erwiesen, sicher noch mehr zerstören wird, eines auf alle Fälle öffnet: Möglichkeiten der Kunst wie nur irgend eine Epoche? Möglichkeiten der Dichtung, um es genau zu sagen? Die Dichtkunst lebt nicht aus sich selbst; gespeist von den Gewalten der erregten Seelen, aufgerüttelt vom Leben in seinen wildesten Formen, geweitet von den Horizonten, die um Völker sind und überwölbt vom heroischen Himmel drohender Katastrophen hat sie noch immer die Zeiten ihrer Geburt gesehen, der Geburt großer Werke und bewältigender Former. Mögen diese Werke mit Notwendigkeit auch erst eine Zeit nach jenen Gewittern der Empfängnis ans Licht treten, ist ihnen doch an Rhythmus, Format, Hitze und erregender Gewalt anzumerken, wie sie empfangen wurden: nämlich (nicht in lauen und gemächlichen Umständen,) nicht in wohlhabenden und mit dem Geiste spielenden Kulturen, nicht auch in einer Generation, die von der Form als Form Sensationen und Entzückungen empfängt: sondern in der bis zu den Wurzeln der Völker wirkenden Erschütterung aller Lebensformen, sondern im Angesicht der Ananke, des allwaltenden Schicksals, vor dem auch die Götter vergehen, sondern in denjenigen Epochen, die alle Gelegenheiten (Gegebenheiten) der Vergangenheit in Frage stellen und das Ungewisse als Wahrzeichen des Menschen vor ihm fürchterlich errichten. Die Werke der Dichter, große dichterische Epochen, haben nicht als Vorläufer, sondern zur Voraussetzung Zeiten des drohenden Untergangs und der letzten Gegenwehr, Zeiten riesenhafter Anstrengungen und von Erregungen, an denen auch der Trägste sich nicht vorbeidrücken kann – zu Voraussetzungen hat die sophokleische Tragödie und die euripideische die Existenzkämpfe Athens, hat die Komödie des Aristophanes das fieberhafte Streiten der Agora, hat das Drama der Engländer die Bürgerkriege und die Kriege mit Frankreich, hat der deutsche Sturm und Drang und die Klassik, die er gebar, das Wühlen der Revolution an allen Klassen, Werturteilen, Lasten (Kasten) der Völker, hat Balzacs und Stendhals Roman wie Kleists Novelle und Drama die heroischen Horizonte der Napoleonzeit, hat der große russische Roman und das Drama Hauptmanns die ersten Einbrüche der weiterwandernden Revolution des vierten Standes in die Seele des Bürgers.

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Wir wissen das: und mit frevelhaftem Frohlocken sehen wir manchmal den Zeuger wieder am Werke der Zeugung. Diese Gegenwart (des Krieges) der Revolution sät Dichtungen aus, die überall offene Furchen finden. Denn Talente sind heute überall, und wo sie nur bewegbar, erschütterbar, fruchtbar genug sind: die Zeit ist ein Hengst an Kraft. Sie hat aus dem Leben des Einzelnen die Sicherheit und Lahmheit des Bürgerlichen gerissen: sie hat das Abenteuer wieder mitten in den Alltag gestellt und damit den großen Roman und die große Novelle wieder ermöglicht, deren Achse das Abenteuer ist: das Abenteuer des ganzen Menschen, nicht seiner Seele nur und seines Verstandes. Dieselbe Kraft (Straße), auf der man sich früher, dumme Unfälle abgerechnet, mit einer (sehr) schätzbaren, aber jedenfalls unproduktiven Sicherheit bewegte, ist heute der Schauplatz jäher Katastrophen. Ein Mensch tritt aus dem Hause, um sich an irgend ein ziviles Ziel zu begeben: und plötzlich wird er von weißen Garden verhaftet, verhört, geschlagen, eingekerkert; ein völlig Veränderter wird entlassen: aktiviert, vom Unrecht in der Seele gepackt, mit dem Drang nach Abhilfe tritt er wieder in seine Wohnung ein, Partei geworden, Leidenschaft – ein poetisches Wesen.



Quelle: Arnold Zweig, „Theater, Drama, Politik“, Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur, herausgegeben von Robert Precthl. Berlin, 2. Jg. Heft 16/17, 10. Januar 1921, S. 4-9; abgedruckt in Arnold Zweig 1887-1968: Werk und Leben in Dokumenten und Bildern: mit unveröffentlichten Manuskripten und Briefen aus dem Nachlass, herausgegeben von Georg Wenzel. Berlin: Aufbau-Verlag, 1978, S. 115-17.

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