GHDI logo


Felix Gilbert über die sexuelle Moral der neuen Generation (Rückblick 1988)

In diesem Auszug aus seinen 1988 erschienenen Erinnerungen beschreibt der deutsch-amerikanische Historiker Felix Gilbert (1905-1991), der bis zu seiner Emigration 1933 in Berlin lebte, die Einstellung seiner Generation zu sexueller Identität und Sexualverhalten. Seine im Text geäußerten Ansichten zu Themen wie dem Paragrafen 175, Liebe und Sexualität sowie Heirat und Scheidung weisen ihn dabei als liberal denkendes Mitglied des Bürgertums aus.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Ich habe mich oft gefragt, ob der Erste Weltkrieg, wie es häufig heißt, wirklich eine große Veränderung der sexuellen Moral gebracht hat. Natürlich hatten wir alle unsern Freud gelesen, und obwohl diese Lektüre unser Verständnis menschlicher Psychologie geschärft hatte, glaube ich nicht, daß unser Leben und unser Verhalten von der Sexualität bestimmt und beherrscht wurden. Im Grunde hatten wir, wenn ich meine eigene Haltung und die meiner Altersgenossen richtig erinnere, eine ziemlich einfache Einstellung zur geschlechtlichen Liebe und zur erotischen Moral, die darauf hinauslief, jeden tun zu lassen, was er tun wollte, und so wenig wie möglich über die sexuelle Moral anderer Leute zu reden.

Das galt besonders für die Homosexualität. Berlin stand in dem Ruf, daß hier Homosexuelle in Ruhe gelassen würden, und daher war Berlin bei ihnen eine beliebte Stadt. Wenn Fremde nach Berlin kamen, wollten sie etwas von der Amoralität des Berliner Lebens sehen, von der sie soviel gehört hatten. Folglich führten sie die Berliner - und ich machte da keine Ausnahme - in ein Restaurant und einen Tanz-Palast, die vornehmlich von Homosexuellen besucht wurden. Die Besucher reisten gewöhnlich zufrieden und glücklich ab, konnten sie doch von nun an aus eigener Anschauung über die Lasterhaftigkeit der Stadt sprechen.

Im Grunde spielte die Homosexualität in Deutschland aber eine geringe Rolle; aufgrund späterer Beobachtungen würde ich sagen, eine weitaus geringere Rolle als in England. In Preußen unterlag die Homosexualität seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert den Strafgesetzen, aber es war offizielle Politik, den Paragraphen 175 nicht anzuwenden. Wir kannten natürlich ein paar Leute oder sogar Paare, die homosexuell waren, aber das war kein Gesprächsgegenstand von besonderem Interesse, und soweit ich es beurteilen kann, tat es der gesellschaftlichen Stellung oder der beruflichen Laufbahn der Betreffenden keinen Abbruch.

In unserer Haltung zur Sexualität und zur Moral stand die Forderung nach größerer Ehrlichkeit im Vordergrund. Was wir verachteten, war die Haltung des neunzehnten Jahrhunderts, nach der man die Frauen aus verschiedenen Klassen auch verschieden behandeln durfte - mit der einen ging man ins Bett, und die andere heiratete man. Uns schien die wesentliche Voraussetzung für eine Beziehung zwischen den Geschlechtern das Vorhandensein wirklicher Zuneigung zu sein. Dann machte es für uns keinen Unterschied, ob man eine Weile zusammenlebte und dann entweder heiratete oder sich trennte, oder ob man, wenn man konventioneller dachte, erst dann eine gemeinsame Wohnung bezog, wenn man verheiratet war.

In den Anschauungen und Einstellungen, die wir bewußt vertraten und verteidigten, waren wir wahrscheinlich recht »modern«, aber es muß wohl auch gesagt werden, daß die äußeren Formen des gesellschaftlichen Lebens zumindest in bürgerlichen Kreisen noch ziemlich konventionell waren. Hochzeiten beging man mit der ganzen traditionellen Feierlichkeit von einst, Scheidungen wurden, obwohl sie immer häufiger vorkamen, als eine kleine Katastrophe angesehen. Meine Großmutter war sehr unglücklich, als eine ihrer Enkelinnen geschieden wurde, wenn sie sich auch nach einiger Zeit daran gewöhnte. Ein Freund von mir, ein Student, der mit einer Studentin zusammenwohnte, war häufig bei uns zu Hause, und das Paar war bei meiner Großmutter sehr gern gesehen; aber ich hätte es nie gewagt, ihr zu sagen, daß die beiden zusammenlebten.

Ich möchte betonen, daß die Haltung meiner Großmutter nicht so sehr Ausdruck einer sozusagen viktorianischen Haltung war, sondern eher Produkt des »offiziellen« Klimas, des allgemein Akzeptierten. Im übrigen mag dieses Auseinanderfallen von tatsächlichem Verhalten und öffentlich geltenden Wertvorstellungen in gewisser Weise als charakteristisch für die Entwicklung in Deutschland angesehen werden. Revolution und Inflation hatten radikale Anschauungen und Verhaltensweisen schneller und heftiger vorangetrieben als in anderen Ländern; aber der allgemeine Umsturz hatte auch den Glauben gefestigt, daß gerade in einer Situation, in der ein völliger Zusammenbruch alles Überlieferten drohte, die Aufrechterhaltung der traditionellen Gewohnheiten und Werte eine Notwendigkeit sei.



Quelle der deutschen Übersetzung: Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa – Erinnerungen 1905-1945. Berlin: Siedler Verlag, 1989, S. 76-78.

Quelle des englischen Originals: Felix Gilbert, A European Past: Memories, 1905-1945. New York: W.W. Norton & Company, Inc., 1988, S. 66-68

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite