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Hugo Bettauer, „Die erotische Revolution” (1924)

Der vorliegende Text war auf dem Titelblatt der Erstausgabe der Zeitschrift Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik abgedruckt. Der Verfasser, Hugo Bettauer (1872-1925), war Mitherausgeber der Wiener Zeitschrift, die nach kurzer Zeit jedoch aufgrund wiederholter Beschlagnahmung als Bettauers Wochenschrift fortgesetzt wurde. Bettauer war ein österreichischer Autor und Publizist, der außerdem die US-Staatbürgerschaft besaß und zeitweise als Journalist in New York, Berlin, München und Hamburg gelebt hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg verfasste er eine Reihe erfolgreicher Unterhaltungsromane, die zeitgenössische soziale Probleme darstellten und häufig verfilmt wurden, so z.B. Die freudlose Gasse. In seinen journalistischen Texten setzte er sich u.a. für die Emanzipation der Frau ein, wie am Beispiel dieses Artikels deutlich wird. Wegen seiner erotischen, tabubrechenden Publikationen war Bettauer, ein assimilierter Jude, in christlich-konservativen Wiener Kreisen verhasst und wurde zur Zielscheibe einer nationalistischen, antisemitischen Hetzkampagne. Am 10. März 1925 wurde er von Otto Rothstock, einem fanatischen Gegner seiner Schriften, in seinen Verlagsräumen niedergeschossen und starb kurze Zeit später.

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Die erotische Revolution


Soziale Gegensätze, wie sie schroffer nie gewesen sind, bitterste Wohnungsnot, die Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten durch die Geldentwertung, Haß zwischen Rassen und Nationen, der Kampf Deutschlands um seine Existenz, soziale Umschichtung, Steuerprobleme, kapitalistische Behauptungswünsche und das Bestreben der unteren Schichten, die Erfolge, die sie errungen haben, nicht zu verlieren, nebenbei gewaltige technische Fortschritte — das sind die Dinge, die die Welt beschäftigen, die Zeitungen füllen, im Mittelpunkt aller Diskussionen stehen. Bei näherer Betrachtung nur Augenblicksprobleme, nur Dinge für morgen und übermorgen, unwesentlich gegenüber den Ewigkeitsfragen, von denen die Gestaltung der Menschheit, das Glück der Kommenden abhängt.

So sehr verwirren und betäuben uns aber diese Sorgen des Tages, diese kleinen und großen Sensationen, daß wir gar nicht wissen und fühlen, wie wir inmitten der gewaltigen und entscheidendsten Revolution aller Zeiten leben, wie sich ohne Führer und Tendenz, ohne Aufgebot von Machtmitteln und Demagogie unaufhaltsam eine Revolution vollzieht, die mehr als jede politische das Leben der kommenden Generationen verändern muß.

Es ist dies: die erotische Revolution!

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Seit dem Sieg des Christentums sind in Europa alle jene Institutionen, die mittelbar oder unmittelbar mit sexuellen Fragen zusammenhängen, stabil und unabänderlich geblieben. Grundprinzip: Die erotischen Triebe haben sich auf die Einehe zu beschränken. Der erwachsene Mann hat eine Gefährtin zu wählen, die mit ihm untrennbar bis zum Tode erotisch verbunden ist. Mit dieser Wahlgefährtin muß er seine erotische Lust befriedigen, mit ihr Kinder zeugen, mit ihr welken, unfruchtbar werden und sterben. Jeder Schritt aus diesem Grundprinzip hinaus ist mehr oder weniger strafbar, wird mit sozialer Ächtung geahndet, ist in seinen Konsequenzen fluchbeladen. Ehebruch ist ein Verbrechen, das uneheliche Kind ein verdammtes, das Mädchen, das sich ohne Ehe einem Mann hingibt, eine Verworfene, wenn es aus bitterer Not sich verkauft, eine Dirne, die außerhalb des Gesetzes steht, rechtlos ist.

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Das Grundprinzip: „die Erotik ist Sache der Ehe“, ist von Männern geschaffen worden, berücksichtigt die Frau überhaupt nicht. Die Frau ist einfach Objekt, ist Sache, die geheiratet wird, steht bis zur Heirat unter der Hörigkeit der Eltern, dann des Mannes. Ist ihr erotischer Trieb stärker als der ihres Mannes, so muß sie psychisch und physisch zugrunde gehen, bekommt sie keinen Ehemann, so muß sie auf jede erotische Betätigung verzichten und verwandelt sich in ein abscheuliches, verdorrtes Wesen, das man als alte Jungfrau mit Hohn und Spott dafür bestraft, daß es das von den Männern aufgestellte Grundprinzip befolgt hat, statt es zu umgehen. Umgeht sie es aber offensichtlich, so hört sie auf, Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein, wird zur Dirne, die man bespeien und verfolgen darf. Nur die heimliche Umgehung des Grundprinzips ist gestattet. Wie überhaupt in erotischen Dingen nur Heuchelei, Lüge und Betrug gestattet sind, wie überhaupt das ganze öffentliche Leben, soweit es mit sexuellen Fragen zusammenhängt, auf Heuchelei, Lüge und Betrug aufgebaut ist!

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