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Frank Warschauer, „Die Zukunft der Oper im Rundfunk” (1929)

Noch deutlich vor Beginn des regelmäßigen Programmbetriebes wurde als erste Opernübertragung im deutschen Rundfunk am 8. Juni 1921 eine Aufführung von Giacomo Puccinis „Madame Butterfly“ aus der Berliner Staatsoper gesendet. Im Programm der 1923/1924 etablierten regionalen Rundfunkgesellschaften wurde klassischer Musik, darunter auch Opernübertragungen, ein großer Teil der Sendezeit eingeräumt. In der ausführlichen Berücksichtigung klassischer Musik kam der Anspruch von Programmverantwortlichen zum Ausdruck, mit dem Rundfunk als gesellschaftlicher Kultur- und Bildungsfaktor zu wirken. Für die Spielzeit 1930/1931 zählte die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, die Dachorganisation der regionalen Sender, insgesamt 386 Opernsendungen im deutschen Rundfunk.

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Die Zukunft der Oper im Rundfunk


Die Zukunft der Oper wird durch ihr Publikum mitbestimmt. Die Zusammensetzung des Publikums ist eine Funktion gesellschaftlicher Schichtungsvorgänge und der technischen Entwicklung, welche die alten Begrenzungen am entschiedensten und unwiderleglichsten sprengt. Die Zukunft der Oper hängt ganz wesentlich von dem Schicksal der technischen Verbreitungsmittel ab.

Eine simple Feststellung, die jedoch bei den Überlegungen über das Heute und Morgen der Oper seltsam wenig geläufig ist. Selten, daß dabei auf diese Tatsachen hingewiesen wird; höchstens sind die allgemein in diese Richtung weisenden Tendenzen bekannt.

Die Oper ist schon heute als rein musikalisches Gebilde eine Angelegenheit der breiten Massen. Zum mindesten wird sie jener dunklen, unbestimmbaren Vielheit von Menschen in immer neuer Wiederholung durch den Rundfunk vorgesetzt. Wie diese sich in Bejahung oder Ablehnung verhalten, muß eines Tages deutlich werden.

Der Rundfunk ist das stärkste Sprengungsmittel des alten Opernpublikums, das eine homogene, aus bestimmten Bildungs- und Temperamentsvoraussetzungen erzeugte Geistesart oder mindestens die Voraussetzungen dazu hatte. Mit dem Rundfunk ist die Oper ins Grenzenlose verstreut. Er bedeutet die endgültige Wiederlegung der Bemühung, vom Werk her publikumsformende Kräfte im Sinne eines Zusammenschlusses in Bewegung zu setzen, wie es am sichtbarsten und stärksten in dem Kunstwillen Wagners versucht wurde. Rundfunk und mit ihm die anderen technischen Mittel der Musikverbreitung sind zunächst auflösende Faktoren, und erst nachdem ihre Funktion in diesem Sinne erfolgt ist, wird darüber hinaus und nun gerade mit ihrer Hilfe eine neue Gruppenbildung, ein bildnerischer Vorgang nunmehr am Gesamtpublikum der Erde einsetzen können.

Bedenken wir, daß morgen die Oper in ihrer Gesamtheit den Wohnungen wie Gas und Wasser zugeführt werden wird. Fern von allem billigen Triumph, wie herrlich weit wir’s gebracht haben, fern einem infantilen à-tout-prix-Optimismus gegenüber der Technik, muß doch gesagt werden, daß mit der Durchführung des technisch bereits praktisch anwendbaren Fernsehens eine bestürzende Novität der Kulturgeschichte in Erscheinung treten wird: die Oper als Alltagstatsache in der eigenen Wohnung, Gegenpol jedes Festspielgedankens. Die Oper bei Bier und Filzpantoffeln. Die Oper des einsamen Aufmerksamen, womit jener Ludwig, der sich in München seine Aufführungen allein vorspielen ließ, eine merkwürdige nachträgliche Bestätigung erfährt.

Wie wird sich dies technisch gestalten? Der Fernsehvorgang zerlegt das kontinuierliche optische Geschehen in Einzelbilder und diese wieder in kleinste Teilchen, die mit größter Geschwindigkeit am Empfangsort zusammengesetzt werden. Man macht sozusagen aus der sichtbaren Wirklichkeit erst im gleichen Augenblick einen Film – freilich ohne ihn auf Zelluloid zu fixieren – und überträgt diesen dann drahtlos. Am Empfangsapparat sieht man – jetzt meist in einem Blickfeld von 20 bis 30 Zentimeter Umfang –, was sich zur selben Sekunde am Sendeort abspielt. Man nimmt dies auf in Form rasch aufeinanderfolgender Einzelbilder, die vorläufig stark flimmern und auch sonst noch nicht sehr deutlich sind.

„Aber dies wird niemals ...“ mit solcher Wendung kommt der kunstgebildete Mitteleuropäer zu Wort. Das sagt er nämlich gern; läßt sich auch nicht dadurch beirren, daß er sich nachweislich immer wieder täuscht. „Und was hat denn dies mit der Oper ...? Glauben Sie wirklich ...?“

Glaube ich nicht nur, sondern weiß es – ohne sonstige Anwartschaft auf die Qualitäten des lieben Gottes. Noch einen halben Schritt technisch weiter, und die Sache wird sich folgendermaßen abspielen: Der Empfangsort projiziert sein Bild wie ein Heimkino auf eine dazu geeignete größere Fläche; dort erblickt man, allerdings ebenfalls wie im Film, die ferngesehenen Vorgänge, zum Beispiel auch die auf einer Opernbühne; und zwar plastisch und in natürlichen Farben, wie dies bei Versuchen des englischen Erfinders Baird schon jetzt erreicht ist. Gleichzeitig hört man die akustischen Vorgänge wie bisher bei der drahtlosen Telephonie, so daß man einen durch technische Mängel kaum geminderten Gesamteindruck erhalten wird. Die Abspaltung der verschiedenen Sinneseindrücke, wie sie bisher im Rundfunk und auf der Schallplatte erfolgt, wird aufhören, aus ihnen wird wieder die Totalität zusammengesetzt. [ . . . ]

Der Rundfunk hat schon jetzt seine eigene Bühne, freilich nur zu dem Zweck der Sendung. Wenn die Erfindung des Fernsehens eingeführt ist, so wird eines Tages das große Theater des Rundfunkes entstehen, dessen Aufführungen wie jetzt die der Opernhäuser für die dort anwesenden Zuschauer, wie für die Rundfunkhörer bestimmt sind. Es wird gleichzeitig die fundierteste und mächtigste Opernbühne der Zukunft sein.

Der Rundfunk verwirklicht die Oper für alle. Er zerbricht die aristokratischen Voraussetzungen der Oper und stellt sie damit vor eine Schicksalsfrage, die so unbeantwortet ist wie die anderen Probleme dieser Zeit des Versagens und der Aufhebung jetzt bestehender Bindungen.



Quelle: Frank Warschauer, „Die Zukunft der Oper im Rundfunk“, Musikblätter des Anbruch. Monatsschrift für moderne Musik, 11. Jahrgang, Heft 6 (1929), S. 274-76.

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