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Hannes Meyer, „Die neue Welt” (1926)


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Die neue Welt


Die Nordpolfahrt der «Norge», das Zeiss-Planetarium zu Jena und das Rotorschiff Flettners sind die zuletzt gemeldeten Etappen der Mechanisierung unseres Erdballs. Als Ergebnisse exaktesten Denkens belegen sie augenfällig den Nachweis einer fortschreitenden wissenschaftlichen Durchdringung unserer Umwelt. So zeigt das Diagramm der Gegenwart inmitten der krausen Linien seiner gesellschaftlichen und ökonomischen Kraftfelder allüberall die Geraden mechanischer und wissenschaftlicher Herkunft. Sie belegen sinnvoll den Sieg des bewußten Menschen über die amorphe Natur. Diese Erkenntnis erschüttert die bestehenden Werte und wandelt deren Formen. Sie gestaltet bestimmend unsre neue Welt.

Unsere Straßen stürmen die Autos: Von 18-20 Uhr umspielt uns auf der Trottoirinsel der Pariser Avenue des Champs Elysées das größtmögliche Fortissimo großstädtischer Dynamik. «Ford» und «Rolls-Royce» sprengen den Stadtkern und verwischen Entfernung und Grenze von Stadt und Land. Im Luftraum gleiten Flugzeuge: «Fokker» und «Farman» vergrößern unsere Bewegungsmöglichkeiten und die Distanz zur Erde; sie mißachten die Landesgrenzen und verringern den Abstand von Volk zu Volk. Lichtreklamen funken, Lautsprecher kreischen, Claxons rasseln, Plakate werben, Schaufenster leuchten auf: Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse erweitert maßlos unsern Begriff von «Zeit und Raum», sie bereichert unser Leben. Wir leben schneller und daher länger. Unser Sinn für Geschwindigkeit ist geschärfter denn je, und Schnelligkeitsrekorde sind mittelbar Gewinn für alle. Segelflug, Fallschirmversuche und Variétéakrobatik verfeinern unser Gleichgewichtsbestreben. Die genaue Stundeneinteilung der Betriebs- und Bürozeit und die Minutenregelung der Fahrpläne läßt uns bewußter leben. Mit Schwimmbad, Sanatorium und Bedürfnisanstalt bricht die Hygiene ins Ortsbild und schafft durch Watercloset, Fayencewaschtisch und -badewanne die neue Gattung der sanitären Töpferei. Fordson-Traktor und Von-Meyenburg-Bodenfräse verlegen die Schwerpunkte des Siedelungswesens und beschleunigen Bodenbearbeitung und Intensivkultur der Ackererde. Bouroughs Rechenmaschine befreit unser Hirn, der Parlograph unsere Hand, Fords Motor unsern ortsgebundenen Sinn und Handley-Page unsern erdgebundenen Geist. Radio, Marconigramm und Telephoto erlösen uns aus völkischer Abgeschiedenheit zur Weltgemeinschaft. Grammophon, Mikrophon, Orchestrion und Pianola gewöhnen unser Ohr an das Geräusch unpersönlich-mechanisierter Rhythmen: «His Masters Voice», «Vox» und «Brunswick» regulieren den Musikbedarf von Millionen Volksgenossen. Die Psychoanalyse sprengt das allzu enge Gebäude der Seele, und die Graphologie legt das Wesen des Einzelwesens bloß. «Mazdaznan», «Coué», «Die» Schönheit» sind Anzeichen des überall ausbrechenden Erneuerungswillens. Die Tracht weicht der Mode, und die äußerliche Vermännlichung der Frau zeigt die innere Gleichberechtigung der Geschlechter. Biologie, Psychoanalyse, Relativitätstheorie und Entomologie werden geistiges Gemeingut aller: France, Einstein, Freud und Fabre sind die Heiligen der letzten Tage. Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmiethaus, Sleeping-car, Wohnjacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff der «Heimat». Das Vaterland verfällt. Wir lernen Esperanto. Wir werden Weltbürger.

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