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Otto Steinicke, „Besuch in einer Neubauwohnung” (1929)


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Besuch in einer Neubauwohnung


Das Haus, in dem Frau Müller wohnt, ist ein riesiger Neubaublock, eingerichtet für einhundertundsechzig Mietsparteien. Die Grundmauern bestehen aus gelbem, geschliffenem Sandstein. Darauf hat man vier Stockwerke gesetzt aus rotem Ziegelstein. Der Wohnblock hat ein flaches Dach. Flugzeuge könnten darauf landen. Die Ziegelsteinfassaden sind mit Zement verputzt und von Kieselsteinen aufgerauht.

Will man zu Frau Müller, muß man einen der drei gewaltigen Torbogen des Neubaues passieren. Vorbei an den Aufgängen zu den Wohnungen der Straßenfront betritt man den breit ausladenden Hof. Luft und Licht fluten quadratisch von oben herein, die letzte Ecke ist erhellt. An acht Stellen sind Küchenabfallplätze in der Form von hohen Sechsecken erbaut und in kurzen Zwischenräumen schnurgerade ausgerichtet wie preußische Soldaten auf dem Manöverfeld. Grasflächen und Kinderspielplätze gibt es auf diesem Hofe sauber hergerichtet und abgezirkelt. Der Hinterhof hat hier nichts mehr von der traurigen und schäbigen Bedeutung der alten Mietskasernen. Keine Stickluft, kein Halbdunkel, kein Gestank. Die kleinsten Abwässer fließen sogleich unterirdisch fort, auch der Regen saust durch eine Rinne in die Tiefe, bleibt unsichtbar, staut sich nirgends an der Oberfläche, verursacht keinen Schmutz.

Den Bewohnern dieses Neubaublocks ist es aus hygienischen Gründen verboten. Wäsche zum Trocknen aus dem Fenster zu hängen. Auch darf kein Staub aus den Fenstern geschüttelt werden. Wer reinigen will, begibt sich nach vorheriger Vereinbarung mit dem Portier nach einem bestimmten Quadrat des Hofes. Hier kann man drei Stunden am Vormittag ausstauben und klopfen, soviel man will. Es gibt gemeinsame große Waschküchen. Sie stehen für alle Mietsparteien abwechselnd an bestimmten Tagen zur Verfügung. Die Ein- und Aufgänge der Wohnungen des Hinterhofes unterscheiden sich in keiner Weise von denen des Vorderhauses. Auf den Treppen sind sogenannte Läufer ausgebreitet, bis hinauf zum vierten Stock.

Frau Müller wohnt Eingang 5 des Hinterhauses drei Treppen. Ich läute. Ein zehnjähriges Kind öffnet: die Mutter ist noch nicht zu Hause, aber der Bekannte wird eingelassen. Ich sehe mich sogleich in der neuen Wohnung um.

Für Frau Müller und ihren Mann, einen Eisenbahnarbeiter, war es ein Lotteriespiel, ein Glücksfall, hier zu landen. Fünf Jahre hat die Familie gewartet, war sie eingetragen auf dem Wohnungsamt für eine Neubauwohnung. Immer wieder wurde sie vertröstet. Endlich setzte man den Namen Müller von der gewöhnlichen Eintragungsliste zu anderen Müllers auf die Dringlichkeitsliste, von dort nach zwei Jahren auf die Vordringlichkeitsliste. Nach weiteren zwei Jahren kam der eine von den tausend Müllers in den Genuß dieser zweieinhalb Zimmer Neubauwohnung. Sie ist schon wirklich fabelhaft. Gar nicht zu vergleichen mit den elenden Mietslöchern im Zentrum, im Norden und Osten der Stadt. Da ist das Hauptzimmer, von Tageslicht durchflutet, 25 m im Quadrat. Die Wände sind trocken, wenn auch nicht stark genug, keinen Schall hindurchzulassen. Nur die schlechten und alten Möbel passen nicht in diesen Raum. Sie sind von der alten Wohnung übernommen worden, eine Chaiselongue, ein Ausziehtisch, sechs Stühle, ein Büfett. Die Unkultur der Kleinbürger, die sogenannten Nippesfiguren, sieht man nicht mehr. Auf dem Tisch steht ein großes Kristallglas mit Blumen. Die Tapete ist von hellem Farbton, mit reichlichen Schnörkeln und Verzierungen.

Das Schlafzimmer mißt 20 m im Quadrat, mit Doppelbett und zwei Kinderbetten, einem funkelnagelneuen Kleiderwäscheschrank, von einem Warenhaus auf Abzahlung geliefert. Dieses Zimmer bekommt am Vormittag Sonne. Es gibt dann ein Badezimmer mit eingebauter Badewanne, warmem und kaltem Wasser, sehr schmal im Raum, so daß sich nur gerade eine Person bewegen kann. Im Badezimmer befindet sich das W. C.

Komfortabel fast schaut die Küche aus, eingebaute Möbel an den Wänden. Die Kochgelegenheit ist zur Hälfte elektrifiziert, zur andern Hälfte mit Gas zu benutzen. Der Frau Müller steht ein elektrisches Bügeleisen für ihre Wäsche zur Verfügung. Die ganze Wohnung wird zentral geheizt. Röhrensystem. Die Beleuchtung geschieht elektrisch. Die Wohnung besteht noch aus einem schmalen Korridor, fünfzehn Meter im Quadrat, und aus einem winzigen sogenannten Kinderzimmer.

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