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Joseph Goebbels, „Rund um die Gedächtniskirche” (1926)

Goebbels, der im November 1926 Gauleiter von Berlin-Brandenburg wurde, hatte – ähnlich wie auch Hitler – ein gespaltenes Verhältnis zu Berlin. Einerseits war es erklärtes Ziel der Nazis, in der preußischen und Reichshauptstadt die politische Macht zu erringen. Andererseits waren hier die Linksparteien und die organisierte Arbeiterbewegung besonders stark vertreten und verwurzelt; zudem riefen auch die Dynamik, Menschenmassen, Kosmopolität und kulturelle Offenheit der pulsierenden Metropole bei Goebbels Ablehnung hervor. Berlin wurde daher von Goebbels wenig schmeichelhaft als „Sündenbabel“ und „Steinwüste“ bezeichnet. Das Unbehagen an der Moderne und die suggerierte Notwendigkeit einer nationalen „Wiedergeburt“ kommen im folgenden Artikel deutlich zum Ausdruck.

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Rund um die Gedächtniskirche


Das ist Berlin W:

Tausend und tausend Transparente speien eine Fülle von Licht in den grauen Abend hinein, daß der Kurfürstendamm hell liegt, fast wie bei Tage. Straßenbahnen klingeln, Autobusse rasseln hupend vorbei, vollgepfropft mit Menschen, Menschen; in langen Reihen summen Taxen und vornehme Privatlimousinen über den spiegelglatten Asphalt. Die roten, gelben und grünen Signallichter hemmen und öffnen die Weiterfahrt; mitten in all dem Gewühl steht hoch aufgerichtet der Grüne und gibt für die schwarzen Menschenmauern an den Straßenrändern den halsbrecherischen Übergang von einer Seite zur anderen frei. Ein Gequieke und Gequake schlägt ans Ohr, daß der Ungewohnte jeden Augenblick Gefahr läuft, die ruhige Besinnung zu verlieren. Vor den großen Kinos leuchten grellrot die neuesten Schlager der Saison: „Vom Leben getötet“, „Das Mädchen vom Tauentzien“, „Nur eine Nacht“. Duft von schweren Parfüms fliegt vorbei. Kokotten lächeln aus den kunstvollen Pastellgemälden moderner Frauengesichter; sogenannte Männer schlendern auf und ab, Monokel blitzen; falsche und echte Edelsteine leuchten auf. Alle Sprachen der Welt dringen ans Ohr; da geht der gelbe Inder schweigend neben dem gesprächigen Sachsen; ein Engländer bahnt sich fluchend mit den Ellenbogen seinen Weg durch das Gewühl, und all den Lärm übertönend brüllt ein verfrorener Zeitungshändler die eben aus der Rotation gekommene Journaille des Abends aus.

Mitten in diesem Trubel der Weltstadt reckt die Gedächtniskirche ihre schlanken Spitzen in den grauen Abend hinein. Sie ist fremd in diesem lauten Leben. Wie ein stehengebliebener Anachronismus trauert sie zwischen den Cafés und Kabaretts, läßt die summenden Autos um ihren Steinleib gleiten und gibt zur Sünde der Fäulnis gelassen und zage die Stunde an.

Es gehen Menschen um sie herum, die vielleicht noch nie zu ihren Türmen hinaufschauten. Da flankiert der Snob in Pelzmantel und Lack, die Dame von Welt, von Fuß bis Kopf Garçonne, mit Monokel und qualmender Zigarette, stöckelt an ihren Gehsteigen vorüber und verschwindet in einer der tausend Stätten von Rausch und Gift, die hier ihre schreienden Lichter lockend in den abendlichen Tag hineinsenden.

Das ist Berlin W! Das steingewordene Herz dieser Stadt. Hier hockt in den Nischen und Ecken der Cafés, in den Kabaretts und Bars, in den Sowjettheatern und Beletagen die Geistigkeit der Asphaltdemokratie aufeinander. Hier, hier wird die Politik von 60 Millionen fleißiger deutscher Menschen gemacht. Hier gibt und holt man die neuesten Börsen- und Theatertips. Hier schiebt man in Politik, Bildern, Kuren, Aktien, Liebe, Film, Theater, Regierung und Wohlfahrt. Die Gedächtniskirche steht nie einsam. Vom Tage taucht sie ohne Übergang in die Nacht, und die Nacht wird zum Tag, ohne daß einen Augenblick um sie die große Stille kam.

Die ewige Wiederholung von Fäulnis und Zersetzung, von Mangel an Genialität und wahrer Schöpferkraft, von innerer Leere und Trostlosigkeit, überfirnißt mit dem Talmiglanz eines zur widerlichsten Scheinkultur herabgesunkenen Zeitgeistes: das ist es, was rund um die Gedächtniskirche sein Wesen und Unwesen treibt. Man möchte hier so gerne wahr haben, es sei die Elite des Volkes, die auf dem Tauentzien dem lieben Gott den Tag und die Nacht stiehlt. Es ist nur die Israelite.

Hier ist das deutsche Volk fremd und überflüssig. Man fällt beinahe auf, wenn man in der Sprache des Landes spricht. Paneuropa, Internationale, Jazz, Frankreich und Piscator, das ist die Parole.

„Die Freundin, alte Nummer, nur 10 Pfennig!“ schreit ein findiger Kolporteur. Es kommt nicht einer von den Vorübergehenden auf den Gedanken, daß das fehl am Ort sei. Es ist gar nicht fehl am Ort. Dieser Mann kennt das Milieu.

Berlin W ist die Eiterbeule an dieser Riesenstadt des Fleißes und der Betriebsamkeit. Was die im Norden erarbeiten, das verjubeln die im Westen. Vier Millionen schaffen in dieser Steinwüste Leben und Brot, und darüber sitzen einige hunderttausend Drohnen, die ihren Fleiß verprassen und in Sünde, Laster und Fäulnis umsetzen.

Der Kurfürstendamm schreit lautheulend auf, wenn man einem dieser Blutsauger einmal auf die Hühneraugen tritt; dann ist die Menschheit in Gefahr. Einen kann man dort nicht leiden sehen, - wenn er vom Metier ist. Und lachend trägt man ein ganzes Volk zu Grabe.

Das ist nicht das wahre Berlin. Das sitzt anderswo und wartet und hofft und kämpft. Es beginnt, den Judas zu erkennen, der unser Volk für 30 Silberlinge verkauft und verhandelt.

Das andere Berlin steht auf der Lauer, zum Sprung bereit. Tage und Nächte hindurch arbeiten einige Tausend, daß einmal ein Tag kommt. Und dieser Tag wird die Stätte der Fäulnis rund um die Gedächtniskirche zertrümmern, umgestalten und dann neu eingliedern in ein auferstehendes Volk.

Der Tag des Gerichts! Es wird der Tag der Freiheit sein!



Quelle: Joseph Goebbels, “Rund um die Gedächtniskirche,” Der Angriff (23. Januar 1928).

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