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Friedrich Sieburg, „Anbetung von Fahrstühlen” (1926)

Neben der in den 1920er in Deutschland grassierenden Assoziierung von „Amerikanismus“ und „Amerikanisierung“ mit der industriell-technischen und wirtschaftlichen Moderne wurden in soziokultureller Hinsicht für (Nord)-Amerika die Phänomene „Massengesellschaft“ und „Massenkultur“ als besonders charakteristisch erachtet. Im folgenden Text setzt sich der Journalist und Literaturkritiker Friedrich Sieburg (1893-1964) kritisch mit den Erzeugnissen der amerikanischen Populärkultur und deren – für ihn zu naiv-positiven – Aufnahme in Deutschland auseinander. Hierbei kommt einerseits das antiamerikanische Klischee vom „kulturlosen“ Amerika sowie andererseits implizit die Behauptung einer Überlegenheit der deutschen bürgerlichen Hochkultur (hier von Sieburg als „Europäertum“ verbrämt) zum Ausdruck.

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Anbetung von FahrstühlenIn


In den Badeorten der kalifornischen Küste finden täglich Schönheitskonkurrenzen statt. Fünfundsiebzig Jungfrauen in winzigen Trikots zeigen, was Gott ihnen gab. Sie treten in langen Ketten an, legen einander die Hände auf die Schultern und marschieren über den Marktplatz oder die Strandpromenade. Nachdem die Photographen gearbeitet haben, treten gewaltige, viereckige Männer hinzu und heften ihnen eine Fahne auf den Bauch, die eine weithin sichtbare Nummer trägt. Während die Polizei Ordnung hält und besonders auf jene Unholde ein Auge hat, auf die dieses Schauspiel irgendwelche Wirkung tut, arbeitet eine Kommission, aus Filmregisseuren, Mädchenhändlern, Geistlichen, Kunstmalern und anderen Spezialisten zusammengesetzt, an der Bewertung der Gliedmaßen im einzelnen und des Gesamteindrucks im allgemeinen. Auch hier wird im Taylorsystem gearbeitet. Der eine befaßt sich nur mit den Beinen, der andere mit Rückenlinien, der dritte trägt dem Gesicht Rechnung, ein vierter mißt Gesäße, so daß das Ergebnis ziemlich schnell zustande kommt. Es zeigt sich, daß Fräulein Williams aus Salt Lake City den ersten Preis erhält. Der größte der viereckigen Männer tritt vor, wickelt ihr die Sternbannerflagge um den Magen, so daß der reizende Bauchmuskel nicht länger zu sehen ist, die Musik stimmt ein vaterländisches Lied an, ältere Personen, die sich noch der Unionskämpfe erinnern, zerdrücken eine Träne, der Priester wünscht dem lieben Mädchen Glück und bittet sie, den Eltern auch weiterhin Freude zu machen.

Ein Mann aus der Menge, welcher sie in den Popo kneift – das mindeste, was er tun konnte – wird vom entrüsteten Volke ergriffen, geteert, gefedert und ins Wasser geworfen. Unterdessen schreiben in Europa Lyriker aller Altersstufen dem amerikanischen Tempo, wie es sich vor allem in den Fahrstühlen ausdrückt, und dem amerikanischen Geist, wie er hauptsächlich im schnell entschlossenen Zugriff und der blitzblanken Tätigung von Abschlüssen hervortritt, ihre begeisterte Huldigung. Sie rühmen ergriffen die schnelle Erledigung von Aufträgen in Neuyorker Hotels – wenn man z.B. eine Hose zum Aufbügeln gibt –, sie preisen fast schluchzend die Verkehrsregelung und werfen den alten deutschen Gott entschlossen über Bord der gut funktionierenden Hudson-Boote.

Der amerikanische Geschäftsmann, welcher durch sein Telephon einige Waggons mit Erbsmehl oder Eisenbahnschwellen in Bewegung setzt, hat in der deutschen Literatur eine tiefgehende Wirkung hervorgerufen. Man bezeichnet ihn als »kalt, hart und unbeweglich«, ja, ein Idiot spricht sogar von Napoleons amerikanischen Zügen. Weil man die Sprache dieser Leute nicht versteht, weil man sieht, daß sie keinen Schnurrbart haben, daß sie nicht mauscheln, glaubt man, sie seien Cäsaren. Ihren Dialog – wenn sie Frachtbriefe besprechen – hält man für wortknapp, ihre wattierten Schultern für denkmalshaft, ihre uniformen Gesichter, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen, für eiserne Masken. Kurzum, angesichts der eigenen Tränenseligkeit, Weitschweifigkeit und Unfähigkeit, einen Fahrplan zu wälzen, führt man das amerikanische Gesicht in die Literatur ein.

Dies ist eine beschämende Reaktion auf das angebliche Versagen des Europäertums. Denn wie repräsentiert sich Amerika seinen Äußerungen, soweit sie nach Europa herübergelangen? Wie stellt es sich in seinen Filmen, in seiner Reportage, in seinen Romanen, in seiner Politik, in seinem Illustrationsbetrieb dar? Ihr Verhältnis zu Gott kennt man aus dem Affenprozeß, ihr Verhältnis zur Frau aus den Filmen und Romanen, wo der Geschlechtsverkehr nur in Form von Vergewaltigung in Urwäldern und Verbrechervierteln auftreten darf. Denn der bürgerliche Amerikaner setzt seine Kinder in die Welt, indem er »abblendet« oder das Kapitel mit einem verheißungsvollen »Fortsetzung folgt« schließt. Die Kinder sind eines Tages da, und klopft der Mann abends spät noch an die Schlafzimmertür seiner Frau, so ist es, um das Haushaltbudget durchzusprechen oder die Erwerbung eines neuen Autos anzukündigen. An heißen Tagen fahren zwar die Damen in Badeanzügen durch Chikagos Straßen – man erfährt gleichzeitig, daß eine Konkurrenz der schönsten Beine damit verbunden ist –, hat man aber bei diesem Anblick unreine Gedanken, so liest der Konstabler es einem von der Stirne ab und schleppt einen vor den Richter. Dafür schlagen sich die jungen Leute im Film mit den Fäusten die Fresse blutig, während das reine Mädchen zitternd im Hintergrund steht. Der knock out Geschlagene ist natürlich derselbe, der einen Vergewaltigungsversuch unternommen hat, weil er das Mädchen eines Tages im Badeanzug über die Straße hat radeln sehen. Der Sieger führt sie zum Priester, und in der Pause zwischen dem fünften und sechsten Akt entsteht auf eine geheimnisvolle Weise ein Kind, das dann später ein hundertprozentiger Amerikaner, Antisemit, Fußballspieler und reiner Gatte wird.

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