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Felix Gilbert über Berlin in den zwanziger Jahren: Die Weimarer Generation (Rückblick 1988)

Die Mutter des Historikers Felix Gilbert stammte aus der berühmten und angesehenen Familie Mendelssohn. Dies brachte mit sich, dass er als Teil der gehoben-bürgerlichen Gesellschaft Berlins aufwuchs. In diesem Textauszug aus Gilberts Erinnerungen beschreibt er die politischen und gesellschaftlichen Faktoren, welche das Lebensgefühl der jungen „Weimarer Generation“ bestimmten.

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Obwohl der Kreis, in dem ich lebte, durch unterschiedliche berufliche Tätigkeiten und durch mannigfache Interessen geprägt war, gab es doch ein starkes Band zwischen uns. Wir waren – ganz bewußtermaßen – eine Nachkriegsgeneration. Wir fühlten uns anders als diejenigen, die im Talmiglanz des Wilhelminischen Reiches aufgewachsen waren und noch am Krieg teilgenommen hatten. Wir mochten die ständigen Erzählungen von Kriegserlebnissen nicht, obwohl wir sehr gut wußten, daß die Generation vor uns ja nur getan hatte, was ihre Pflicht war. Doch aus unserer Sicht war der Krieg eine fragwürdige Angelegenheit gewesen, und es war besser, über die Rolle zu schweigen, die man darin gespielt hatte, als sich damit zu brüsten.

Wir waren Pazifisten oder hatten zumindest einen Hang zum Pazifismus, und außerdem waren wir froh, daß wir nicht mehr in einer Monarchie lebten. Gleichzeitig hatten wir, die wir in den ruhelosen Jahren von Niederlage, Revolution, Bürgerkrieg und Inflation geprägt wurden, wenig Vertrauen in die Stabilität der Zustände; die einzige Sicherheit, die wir besaßen, war die Überzeugung, daß nichts sicher war.

Keine der politischen Bewegungen, die mit dem Ende des Krieges aufgeschossen waren, hatte ihr Ziel erreicht oder die an sie geknüpften Hoffnungen erfüllt, und wir fragten uns, ob die Unruhen und die Umbrüche der Nachkriegszeit wirklich die alten Mächte entthront hatten oder ob ganz im Gegenteil eine neue Woge der Gewalt heraufzog. Andererseits unterschieden wir uns auch von der folgenden Generation, den im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts Geborenen, die in der relativen Sicherheit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre aufwuchsen. Viel weniger der Unbeständigkeit des gesellschaftlichen Lebens sich bewußt als meine Generation, forderten sie mehr von dem, was sie für ihren Anspruch hielten oder für das Deutschland Zustehende.

Es war ein entscheidender Unterschied, ob man vor oder nach 1914 aufgewachsen war. Wir lebten in dem Gefühl, daß unsere Nachkriegsgeneration etwas ganz Neues darstellte. Es machte Spaß, die Älteren zu schockieren, indem wir im Sommer keinen Hut trugen, indem wir es vermieden, einen Smoking anzuziehen, wenn wir abends ausgingen, und indem wir stundenlang auf Barhockern saßen, statt in angemessene Weinlokale zu gehen. Wir wollten unser eigenes Leben leben, das nicht an ein festes, enges Schema gebunden war.



Quelle der deutschen Übersetzung: Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa – Erinnerungen 1905-1945. Berlin: Siedler Verlag, 1989, S. 74-75

Quelle des englischen Originals: Felix Gilbert, A European Past: Memories, 1905-1945. New York: W.W. Norton & Company, Inc., 1988, S. 64-65

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