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George L. Mosse über seine Berliner Kindheit in den letzten Jahren der Weimarer Republik (Rückblick 2000)


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Keine Vorahnung einer bevorstehenden Katastrophe überschattete meine Kindheit, die ich in den ausgehenden Jahren der Weimarer Republik in Berlin zubrachte. Ich erlebte diese Jahre von einem Logenplatz aus und nahm die Wirklichkeit durch den das reale Leben weitgehend ausblendenden Filter eines opulenten Lebensstils wahr. Welches andere Kind hatte im Alter von nicht einmal zehn Jahren ein eigenes Auto mit Chauffeur und wurde täglich in die Grundschule gefahren, während alle anderen zu Fuß kamen? Zu Hause kümmerten sich wechselnde Gouvernanten um alles, was ich brauchte. Ich hatte mein eigenes Wohn- und Schlafzimmer, sowohl in Berlin als auch auf unserem Landsitz gleich außerhalb der Stadt.

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Die beiden äußeren Faktoren, die mein Leben in diesen frühen Jahren mehr als alle anderen prägten, waren Überfluss und Platz, viel Platz. Rückblickend erscheint mir das Stadthaus meines Großvaters in Berlin, obzwar ich dort nur ein sporadischer Gast war, als der Ort, der mehr als jeder andere die Lebenswelt symbolisierte, in der sich meine Kindheit abspielte. Mein Großvater mütterlicherseits, Rudolf Mosse, erbaute seinen »Palast«, der den Stadtvillen der italienischen Renaissance nachempfunden war, 1882 am Leipziger Platz als anschauliche Demonstration der Solidität seines ein Jahrzehnt zuvor gegründeten Verlagsimperiums. Um seine Arriviertheit zusätzlich zu unterstreichen, kaufte er 1896 das Landgut in Schenkendorf mit seinem prachtvollen Herrenhaus, zu dem man mit dem Automobil von Berlin aus rund vierzig Minuten unterwegs war. Das Palais in Berlin war ein imposanter Steinbau im klassizistischen Stil, in seinem Innenhof stand ein von Walter Schott entworfener Brunnen mit tanzenden Jungfrauenfiguren. Eine Kopie des Brunnens wurde später auf einem Landsitz in Ostpreußen aufgestellt, eine zweite im New Yorker Central Park, wo sie noch heute steht. Das war aber noch nicht alles. Das Palais besaß nicht nur luxuriös eingerichtete Wohnräume, sondern beherbergte auch die Kunstgalerie meines Großvaters und seine umfangreiche Bibliothek.

Die Existenz einer solchen Galerie und Bibliothek in einem Privathaus war Ausdruck der Bildungsideale des deutschen Bürgertums: Der Einzelne war gehalten, durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung, bei der Erziehung, Kultur, Literatur und Bildende Kunst im Mittelpunkt standen, den eigenen Selbstwert zu definieren und zu steigern. Gemälde und Plastiken zu geschichtlichen, sakralen oder nationalen Themen, wie sie sich in der Sammlung Rudolf Mosses fanden, ließen sich unschwer rezipieren und in eine spirituelle Dimension tauchen, in der sie das Wahre und Schöne symbolisierten und den menschlichen Geist auf eine höhere Stufe hoben.

Das zweifellos spektakulärste Gemälde im ganzen Haus erstreckte sich über eine der langen Wände des Speisezimmers. Sein Schöpfer Anton von Werner, der auf Monumentalbilder mit historischen Sujets spezialisiert war, hatte mit einem 1877 gemalten Bild Berühmtheit erlangt, das die Proklamation des neuen Deutschen Reichs durch Bismarck im Spiegelsaal von Versailles zeigte. An sein Riesenfresko im Speisezimmer erinnere ich mich noch gut, es war eine Quelle endloser Faszination. Das in kräftigen Farben gehaltene Bild – es trug den Titel Das Gastmahl der Familie Mosse – wurde 1899 geschaffen. Rudolf Mosse, seine Frau und seine Tochter – meine Mutter – sowie einige seiner wichtigen politischen Freunde sitzen, allesamt in Renaissance-Kostüme gekleidet, inmitten einer italienisch anmutenden Szenerie an einer großen Banketttafel, Trinksprüche ausbringend und sich amüsierend. Die Runde besteht aus führenden Liberalen wie dem Arzt und Politiker Rudolf Virchow und dem liberalen Abgeordneten Heinrich Rickert. Auch andere Angehörige der bürgerlichen Elite ließen sich damals in dieser Manier malen – die Fresken in ihren ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Stadthäusern zeigten die Mitglieder ihrer Familie häufig in Renaissance-Kleidern.

Diese Mode, die die Wende zum 20. Jahrhundert nicht sonderlich lange überlebte, dokumentierte ein neues Selbstbewusstsein im Lager der neuen bürgerlichen Elite, ebenso wie deren Verlangen, durch die Identifizierung mit einer nicht-aristokratischen Vergangenheit, einer Epoche, in der das Abendland eine stilistische und kulturelle Blüte erlebt hatte, mehr Legitimität zu gewinnen. Die Renaissance war eine Epoche, die mit ihrer republikanischen Gesinnung der liberalen Elite, die sich als Schrittmacherin der Kultur verstand, sympathisch war. Für deutsche Juden hatte es daher einen besonderen Reiz, sich zur Renaissance zu bekennen als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur Geschichte und Tradition Europas. Von all dem wusste ich damals nichts – ich genoss einfach nur den Anblick dieser kostümierten Gesellschaft und konnte gar nicht genug darüber staunen, wie schön meine Mutter als junges Mädchen gewesen war.

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