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Rolf Wagenführ über den Inflationsboom (1932)

Angesichts der Fülle von wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit – u.a. die Umstellung zur Friedenswirtschaft, die Demobilisierung der Weltkriegsarmee und deren Reintegration in den Arbeitsmarkt, die Begleichung von Kriegskosten und Kriegsfolgelasten – erschien Reichsregierung und Reichsbank eine inflationäre Politik im Vergleich zu einer harten Deflationspolitik eher gangbar. Für den Export deutscher Güter ergaben sich außerdem durch sinkende Produktionskosten und den schwachen Markkurs Wettbewerbsvorteile. Erst die Beschleunigung der Geldentwertung zur Hyperinflation ab Juni/Juli 1922 und deren im Krisenjahr 1923 besonders akut werdende Folgen führten zu einem Stabilisierungskonsens, der die Währungsreform durch Rentenmark und Reichsmark ermöglichte. Im folgenden Rückblick von 1932 legt der Statistiker und Volkswirt Rolf Wagenführ, damals am Berliner Institut für Konjunkturforschung, einige der zeitweilig positiven Effekte der Inflation sowie das Umkippen ins Negative dar.

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Mit dem Jahr 1919 war der tiefste Stand der industriellen Produktion Deutschlands erreicht worden. Von 1919 bis 1922 nahm das Produktionsvolumen um mehr als 90 v. H. zu: waren 1919 nur etwa 37 v. H. der Vorkriegsproduktion (ehemaliges Reichsgebiet) erzeugt worden, so kam man im Jahr 1922 bereits bis zu 71 v. H. an das Vorkriegsniveau heran

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Generell gesehen, ist die Inflation den Unternehmereinkommen günstig gewesen, während sie sich für die Arbeitereinkommen ungünstig auswirkte. Die Löhne und auch die Gehälter vermochten, vor allem seit 1921, mit der Preisentwicklung nicht Schritt zu halten. Die Lohnkosten gingen in der Industrie daher anteilmäßig mehr und mehr zurück, ein immer größerer Teil des industriellen Nettoprodukts gelangte nicht zur Verteilung. [ . . . ] Ferner wurde die Industrie, ebenso wie andere Teile der Wirtschaft, durch die fortschreitende Geldentwertung von Zinsbelastungen und Amortisationsverpflichtungen frei. Die bislang für diese Zwecke aufzuwendenden Mittel – deren Rückfluß in die Anlagesphären der Industrie unter normalen Marktverhältnissen keineswegs sicher war – konnten nunmehr direkt für industrielle Anlagen verwendet werden.

Hinzu kam, daß der Finanzbedarf der öffentlichen Körperschaften in zunehmendem Umfang aus an der Quelle erhobenen Steuern gedeckt wurde, die der Geldentwertung weniger stark unterlagen als die übrigen Steuern. Vom Unternehmereinkommen war daher ein ständig sinkender Teil für Steuerzahlungen abzuzweigen; auch die „nicht bezahlten Steuern“ wurden für Investitionszwecke frei.

Wenn auch das „freiwillige Sparen“ ständig an Bedeutung verlor, trat, im Zusammenhang mit den Einkommensverschiebungen, das „erzwungene Sparen“ doch immer mehr in den Vordergrund. „Die große Masse der Bevölkerung gab ohne Zweifel einen größeren Teil ihrer Einkommen für Konsumtionszwecke aus; aber nur ein sehr viel kleinerer Teil des Volkseinkommens gelangte überhaupt in die Hände der Konsumenten“ (Graham).

Von der Produktionsseite her wird die schnelle Zunahme der Investitionstätigkeit bestätigt. Nimmt man das Jahr 1919 zum Ausgangspunkt, so hat sich z. B. die Zahl der gebauten Schiffe bis 1922 mehr als verdreifacht, die Zahl der neuerrichteten Wohnungen stieg auf das Zweieinhalbfache; die Eisen- und Stahlproduktion hat sich mehr als verdoppelt, die Erzeugung der Metallhütten weist nahezu die gleiche Steigerung auf. In der gesamten Produktionsgüterindustrie beträgt die Zunahme des Produktionsvolumens von 1919 bis 1922 rund 100 v. H.

Die Erzeugung von Verbrauchsgütern hat von 1919 bis 1923 zwar auch zugenommen; doch beträgt die Steigerung hier nur 69 v. H. Besonders gering war die Zunahme in den Nahrungs- und Genußmittelindustrien, die fast ausschließlich auf die schwindende Kaufkraft des Binnenmarkts angewiesen waren; in der Textilindustrie und den Gruppen der lederverarbeitenden Industrie war die Zunahme etwas größer; doch dürfte hier der Anteil der Ausfuhr von Jahr zu Jahr gestiegen sein.

Überhaupt hat die Ausfuhr sich während dieser Phase der Inflation verhältnismäßig günstig entwickelt. Verglichen mit der Vorkriegszeit waren die Industriestoffpreise in Deutschland weniger stark gestiegen als in Frankreich, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn sich auch im Laufe der Jahre die bestehenden Spannen zuungunsten Deutschlands vermindert haben, bestand doch lange Zeit hindurch in dem niedrigen deutschen Preisniveau ein wichtiger Anreiz zur Ausfuhrsteigerung.

1921/22 war die Exportquote der deutschen Industrie sogar höher als im letzten Vorkriegsjahr.

Im Herbst 1922 vollzog sich deutlich eine Wendung zum Schlechten. Das Tempo, in dem die Inflation fortschritt, übersteigerte sich. Mit der zunehmenden Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes verminderte sich – in Gold gerechnet – der Geldumlauf zusehends. Im Laufe des Jahres 1923 sank die Kassenhaltung allenthalben auf ein unerträgliches Minimum.

Gleichzeitig nahm die Hypertrophie des Handels- und Bankapparats immer krassere Formen an. Während die Zahl der Industriearbeiter den Vorkriegsstand noch nicht erreichte, hatte sich die Zahl der Bankangestellten gegenüber 1913 verdreifacht. Die Zahl der Kontokorrents bei den drei großen D-Banken war im gleichen Zeitraum auf das Fünffache angewachsen. An der Zahl der bestehenden Aktiengesellschaften sind Handel und Banken in zunehmendem Umfang beteiligt (1919: 16 v. H.; 1923: 22 v. H.). Die Belastung der Industrie mit steigenden Verwaltungskosten nahm zu, da eine immer größere Zahl von Angestellten erforderlich war, um die Rechungsführung der Betriebe zu bewältigen.

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