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Hans Ostwald, „Sittengeschichte der Inflation” (1931)

Zeitzeugen der Inflation wie Thomas Mann, Stefan Zweig und Elias Canetti bezeichneten sie als „Hexensabbat“. In ähnlicher Weise bezeichnete der Journalist und Schriftsteller Hans Ostwald die Inflation als „höllischen Karneval“. Zwar hatte die Inflation zeitweilig gewisse Vorteile mit sich gebracht, etwa für den deutschen Export und den Arbeitsmarkt; mit der Beschleunigung der Geldentwertung zur Hyperinflation ab Juni/Juli 1922 und deren Zuspitzung im Krisenjahr 1923 kippten die Effekte aber drastisch ins Negative um. Insbesondere die Hyperinflation führt bei weiten Teilen der deutschen Bevölkerung zu einem großen Vertrauensverlust gegenüber Politik und (Markt-)Wirtschaft. Die von Ostwald in der folgenden Quelle unternommene nationalistische Verklärung der Deutschen als „Volk der Arbeit“, das im Kern „gesund“ geblieben war, verweist auf ein Bedürfnis nach Überkompensation und Selbstvergewisserung, das zu einem nicht unwesentlichen Teil auf das Inflationstrauma zurückgeht.

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Sittengeschichte der Inflation


Wer an die Jahre der Inflation zurück denkt, hat das tolle Bild eines höllischen Karnevals vor Augen: Plünderungen und Krawalle, Demonstrationen und Zusammenstöße, Schiebungen und Schleichhandel, quälender Hunger und wüste Schlemmerei, rasche Verarmung und jähes Reichwerden, ausschweifende Tanzwut, schreckliches Kinderelend, Nackttänze, Valutazauber, Hamstern von Sachwerten, Vergnügungstaumel – Genußsucht, materielle Lebensanschauung neben religiöser Versenkung, aufblühendem Okkultismus und Hellseherei, – Spielwut, Spekulationssucht, Scheidungsepidemie, Verselbständigung der Frau, Frühreife der Jugend, Quäkerspeisungen, Studentenhilfe, Razzien und Schieberprozesse, Jazzband, Rauschgifte.

Wahrlich, ein grellbunter Jahrmarkt des Lebens!

Es ließen sich wohl noch mehr Schlagworte und Vorgänge, Geschehnisse und Zustände anführen, Was ist nicht alles neu aufgetaucht! Was hat sich damals nicht alles laut und schrill bemerkbar gemacht!

Es war die Zeit einer starken Umwertung – im Wirtschaftlichen und im Geistigen, in materiellen wie in seelischen Dingen. Wer reich gewesen und sich alle Genüsse der Welt hatte gönnen können, mußte plötzlich froh sein, wenn ihm wohlwollende Menschen einen Teller warmer Suppe reichten. Aus kleinen Banklehrlingen wurden über Nacht die „Herren Bankdirektoren“, die über scheinbar unerschöpfliche Mittel verfügten. Ausländer, die daheim die allerarmseligsten Kleinrentner gewesen waren, konnten in jener Zeit in Deutschland plötzlich wie Fürsten auftreten.

Alles schien sich umzukehren.

Auch die Familie schien in jährem Zerfall. Ein erotischer Taumel wirbelte die Welt durcheinander. Viele Dinge, die sonst im stillen sich abgespielt hatten, traten in die grelle Öffentlichkeit. Vor allem stellten sich die Frauen auf vielen Gebieten gänzlich um. Sie traten mit ihren Forderungen, besonders auch mit ihren sexuellen Forderungen, viel deutlicher hervor. Sie betonten auf jede Art und Weise ihr Recht auf Leben und Ausleben viel stärker. Galante Skandale traten stärker als sonst ins Licht. Mancher von ihnen war sinnbildlich für die Zeit. Die Nacktkultur beschränkte sich nicht nur auf bestimmte Kreise und auf Revuetheater sowie Kabaretts. Sie drang durch die Mode in alle Schichten: das schöne Bein wurde entdeckt und gern zur Schau gestellt. Schönheitspflege ward überall getrieben. Die Entwicklung ging weiter. Hatte die Frau im Kriege viele männliche Stellen ausfüllen müssen, ließ sie sich nun nicht mehr ganz in die Familie zurückdrängen. Das hatte seinen Einfluß auch auf die Beziehungen der beiden Geschlechter. Und als letztes Ergebnis der Entwicklung entstand die Junggesellin, diese über sich selbst bestimmende Frau, sei sie nun unverheiratet, geschieden oder verwitwet.

Dazu erlebten wir sonderbare Verjüngung der Frauenwelt. Großmama tanzte in fast kniefreiem Rock mit Bubikopf mit jungen Männern in der Diele, im Hotel, im Kaffeehaus: überall, wo Gelegenheit war. Und Mama tanzte mit Freunden. Und das Kinderfräulein benutzte die Gelegenheit und tanzte auch – und die Kinder daheim graulten sich. –

Die Nachkriegserotik war beeinflußt von den Unsicherheiten des Lebens, von dem jähen Auf und Ab der Wirtschaft und der allgemeinen Unsicherheit. Und doch brachte diese Zeit auf dem Gebiet der Erotik sowohl wie auf vielen andern Gebieten neue Erkenntnisse und Entwicklungen.

Trotzdem aber alle Werte und Wahrheiten, die Jahrhunderte, ja Jahrtausende lang das Rückgrat des menschlichen Lebens gewesen waren, zusammenzubrechen schienen, wurden sie nur zu einem geringen Teil umgewandelt oder neugestaltet, ja manche wurden auch nur ergänzt.

Das wurde offenbar, als die Inflation zu Ende ging.

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