GHDI logo


Theodor Heuss, „Demokratie und Parlamentarismus, ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft” (1928)

In der Zwischenkriegszeit etablierte sich europaweit eine ganze Reihe von diktatorisch regierten Staaten; besonders aufmerksam wurden international die Entwicklungen im seit Oktober 1922 faschistisch regierten Italien und im kommunistischen Russland (ab Dezember 1922: Sowjetunion) verfolgt. Der Liberale Theodor Heuss wendet sich in seinem hier auszugsweise wiedergegebenen Aufsatz gegen die gefährliche Attraktivität radikaler Ideologien sowohl des linken als auch des rechten Flügels und verteidigt dagegen Demokratie und Parlamentarismus. Dabei kritisiert er die ständestaatliche Ideologie als unrealistische Vereinfachung der komplexen modernen Gesellschaft; auch bringe eine berufsständische Ordnung die Gefahr mit sich, den Staat zum „Kampfplatz der Interessenten“ zu machen. Bezüglich des Faschismus und des Bolschewismus sieht Heuss gemeinsame ideengeschichtliche Wurzeln im Anarchismus (daher der Verweis auf Michail Bakunin) und im französischen Syndikalismus; die Fähigkeit zur „Herausstellung einer klaren Staatsidee“ spricht er den antidemokratischen Ideologien ab. Gleichzeitig verweist Heuss auf die Entstehung des nationalstaatlichen Gedankens aus der Demokratie

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 4


Demokratie und Parlamentarismus sind keine Heilsverkündigungen und keine absoluten Rezepte gegen die Krankheiten dieser Welt; es sind geschichtliche Formen der staatlichen Willensbildung, historisch bedingt, wesentlich durch die pädagogischen Kräfte der Selbstverantwortung, die ihnen eigentümlich. Sie haben es sich gefallen lassen müssen, in ihrer theoretischen und in ihrer historischen Position angegriffen zu werden. Der Standpunkt des Angriffs ist wechselnd. Eigentümlich ist nur der Mehrzahl vor allem der grundsätzlichen Erörterungen, daß sie feststellen, die Demokratie sei ein Kind des „westlichen Rationalismus", dessen Zeit vorbei; sie setzen ihm, der zeitgebundenen Geistesform, den Anspruch einer absoluten Wertung gegenüber und übersehen, daß jeder Schritt weiter, da die Wortträger ihre theoretischen Gegenthesen in Forderungen überleiten wollen, handle es sich um die berufsständische Ideologie oder um die faszistische oder sonst eine Rettungsform, sie in ein Gestrüpp typisch rationalistischer Prägungen führt.

In Deutschland hat man sich dabei in ein paar Schlagworte verliebt. Die Demokratie „atomisiere" das Volk, indem sie den einzelnen als Urwähler, gelöst von Stand und Herkommen, zum politischen Faktor mache. Dieser homo politicus, am Wahl- oder Stimmtag für souverän erklärt, sei eine Fiktion; der Mensch sei nicht Staatsbürger an sich, sondern Mitglied einer mannigfach gestuften Gesellschaft, die nun aus Doktrin eingeebnet werde. Und so fort. Weimar habe nur Fremdes kopiert; die Zersetzung des deutschen Geistes sei schon so stark gewesen, daß man nicht auf die in der deutschen Geschichte doch vorhandenen Grundelemente ständischer Schichtung und Rechtsformung zurückgegriffen habe. Mit diesem Beschwören deutscher Staatseigentümlichkeit ist eine Zeitlang viel Unfug getrieben worden. Die ständische Gliederung – wir müssen einen öfters vorgetragenen Gedankengang wiederholen – ist niemals, wie es eine romantische Legende will, eine dem deutschen Wesen besondere Eigentümlichkeit gewesen, sondern gehörte einer Epoche; sie ist nicht durch den „nivellierenden" Rationalismus der demokratischen Denkweise eingeebnet, sondern durch den bürokratisch bedienten, absolutistischen Territorialstaat niedergebrochen worden. Und der Versuch ihrer theoretischen Neubelebung und Transponierung in das Wesen eines neuen „Berufsständetums" entstammt auch nicht spezifisch deutscher Geistesarbeit – ihr erster klassischer Vertreter war der Genfer Ghismondi, der zur französischen Welt rechnet. Man erinnert sich, daß diese Idee politische Bedeutung bekam, als sie, in einem seltsamen Hin und Her der Motive, dazu diente, dem Rätegedanken die politischen Schößlinge abzuschneiden: man hat ihm damals die wirtschaftspolitische Berufsideologie aufokuliert. Die Gärtner und Botaniker sind sich noch nicht ganz klar, ob der Baum nun im Gewächshaus des Reichswirtschaftsrats nahrhafte Früchte tragen wird. Doch das mag hier auf sich beruhen.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite