GHDI logo


Arnold Brecht über seine ersten Wochen im Reichskanzlerhaus (Rückblick 1966)

Im Zuge des deutsch-amerikanischen Notenwechsels zeigte sich, dass die Abdankung Kaiser Wilhelms II. eine faktische Vorbedingung der Alliierten für einen Waffenstillstand darstellte. Um die Monarchie als solche zu retten, drängte Reichskanzler Max von Baden den Kaiser zur Abdankung. Trotzig entzog sich dieser aber Ende Oktober 1918 ins Große Hauptquartier nach Spa (Belgien) und weigerte sich bis zuletzt, die Realitäten anzuerkennen. Angesichts der revolutionären Massenbewegung und eines von Friedrich Ebert ergangenen Ultimatums ließ Max von Baden am 9. November 1918 eigenmächtig die Abdankung des Kaisers verkünden und übertrug das Amt des Reichskanzlers an Ebert. Die Frage der zukünftigen Staatsform – ob Monarchie oder Republik – wollte Ebert einer verfassunggebenden Versammlung vorbehalten. Dass Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Republik ausrief (womit er Karl Liebknechts Ausrufung der „sozialistischen Republik“ zuvorkommen wollte), war für Ebert daher eine unzulässige Eigenmächtigkeit.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


In seinen Noten an die Vereinigten Staaten hatte Prinz Max – übrigens auf Anregung der Obersten Heeresleitung – darauf hingewiesen, daß Deutschland die Punkte des Präsidenten Wilson nur unter der Voraussetzung als Grundlage angenommen habe, daß das gleiche auch Großbritannien und Frankreich täten. Anfang November traf Lansings Note vom 5. November ein, in der er mitteilte, daß Großbritannien und Frankreich tatsächlich die gleichen Verpflichtungen übernommen hätten, wenn auch mit zwei wichtigen Ausnahmen, betreffend die Kriegsentschädigungen und die Freiheit der Meere. Daß diese urkundliche Grundlage für die Friedensverhandlungen geschaffen wurde, habe ich immer für das entscheidende Verdienst des Prinzen Max in seiner kurzen Reichskanzlerzeit gehalten.

Im Rückblick auf diese meine ersten Wochen im Reichskanzlerhaus sind zwei Umstände für mich mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Der erste ist die mir stets unbegreiflich gebliebene Tatsache, daß Prinz Max nicht persönlich zum Kaiser fuhr, um den Versuch zu machen, ihn zur Abdankung im Interesse des Vaterlandes und der Erhaltung der Monarchie zu veranlassen. Er schickte andere. Sogar telefonisch hat er, wenn ich richtig zähle, den Kaiser in dieser Zeit nur zweimal gesprochen, das erste Mal am 29. Oktober, als der Kaiser plötzlich ins Hauptquartier abreiste (siehe oben), das andere Mal erst am 9. November. Eine solche Entscheidung mußte dem Kaiser von dem verantwortlichen Reichskanzler selbst abgerungen werden.

Prinz Max hat sich nicht nur auf seine Grippeerkrankung berufen, sondern auch darauf, daß er nicht so lange von Berlin habe wegbleiben können, ferner auf seine inneren Schwierigkeiten, als Angehöriger eines bundesfürstlichen Hauses vom Kaiser seine Abdankung zu verlangen, und schließlich darauf, daß er seine Forderung durch Androhung seines Rücktritts hätte unterstützen müssen und daß dann eine neue Kabinettskrise ausgebrochen wäre. Nun ist es ja richtig, daß der Gripperückfall die Reise gerade an einigen besonders wichtigen Tagen unmöglich machte. Aber vorher und nachher hätte die Möglichkeit physisch bestanden. Die andern Gründe, die Prinz Max dagegen angeführt hat, haben mich nicht überzeugen können. Der große Zweck, den gewaltsamen Umsturz der Monarchie abzuwenden, war viel zu wichtig, als daß demgegenüber diese Einwände hätten durchschlagen dürfen. Die Parteiführer, die auf die Entscheidung des Kaisers warteten, um die innere Revolution noch in letzter Stunde abzuwenden, hätten die Abwesenheit des Kanzlers für einen Tag und zwei Nächte für weniger schädlich gehalten als das Hinziehen der Entscheidung.

Daß Deutschlands Geschichte anders verlaufen wäre, hätte der Kaiser rechtzeitig zugunsten seines Enkels abgedankt, läßt sich kaum bezweifeln. Die Spaltung des Deutschen Bürgertums durch die Abschaffung der Monarchie hat die Bildung einer die Verfassung stützenden Mehrheit für die ganze Zeit von 1920 bis 1933 verhindert. Eine solche Mehrheit wäre ohne den Zankapfel der monarchischen Frage vielleicht, ja wahrscheinlich zustande gekommen.

Der andere wichtige Umstand, der meine politische Entwicklung stark beeinflußt hat, war die aus solcher Nähe miterlebte geschichtliche Tatsache, daß die Mehrheitssozialdemokraten bereit waren, eine demokratische Verfassung mit monarchischer Spitze wie in England, den skandinavischen Ländern und Holland loyal zu unterstützen, wenn durch Abdankung von Kaiser und Kronprinz eine Übergangszeit gewährleistet war. Immer wieder trat diese Auffassung bei Ebert, David, Noske, Landsberg, aber auch bei Scheidemann zutage. Als dann am 9. November Scheidemann seine Rede vom Reichstagsfenster mit den Worten schloß: „Es lebe die Republik“, geschah das erst, nachdem die immer wieder verlängerte Frist für die freiwillige Abdankung fruchtlos verstrichen und die Monarchie tatsächlich schon verloren war. Selbst dann war seine Handlung nicht im Einklang mit Eberts Wünschen. Prinz Max’ Erinnerungen sind das beste Zeugnis dafür, daß die Mehrheitssozialdemokraten sich zum Schluß in einer Zwangslage befanden. Deutschland wäre in die Gewalt der Unabhängigen und Spartakisten gekommen, hätten die Mehrheitssozialisten es diesen allein überlassen, sich zum Sprecher der Volksmeinung in der Abdankungsfrage zu machen. Der Patriotismus der Mehrheitssozialisten ist niemals reiner hervorgetreten als in diesen Wochen. Das war für mich ein unauslöschlicher Eindruck. Ich gebe zu, daß vom Standpunkte der Kommunisten und radikalen Sozialisten gesehen das, was ich hier zum Lobe der Mehrheitssozialisten anführe, Grund zu schwerstem Tadel bilden mußte und gebildet hat. Hier scheiden sich die Werturteile. Die Tatsachen sind klar genug.



Quelle: Arnold Brecht, Aus nächster Nähe, Lebenserinnerungen 1884-1927. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1966, S. 169-70.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite