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Chinesische Touristen genießen den Geschwindigkeitsrausch auf der Autobahn (22. Juli 2004)

Ein Journalist aus Deutschland begleitet fünf chinesische Touristen, die nach Deutschland kommen, um hier in einem Mercedes die Autobahn ohne Tempolimit zu erleben. Dem Reporter dient dabei das Bild dieser fünf Touristen, die in einem gebremsten Land richtig Gas geben, als Ausgangspunkt für unterschiedliche Überlegungen, die er über Deutschland und China anstellt. Er assoziiert Deutschland mit der Vergangenheit und weist China die Zukunft zu. Ebenso schafft er eine Gegenüberstellung der Technomoderne des Fernen Osten mit der bildhaft-beschaulichen Traditionslandschaft Deutschlands, und denkt nach über die Auswirkungen der Globalisierung.

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Im Reich der Stille

Für Chinesen ist es eine Traumreise: Autobahnfahren in Deutschland. Möglichst schnell, in einem großen Mercedes. Sie fahren durch ein Land, das alt aussieht.


Da ist es, das Schild. Guofeng Wang hat seit 30 Kilometern darauf gewartet. Eigentlich schon seit seiner Ankunft gestern, eher noch, seit er die Reiseunterlagen nach China geschickt bekam – vielleicht sogar sein ganzes Autofahrerleben lang. Und jetzt zieht es so klein und beiläufig am Straßenrand vorbei, dass man es fast übersieht, das weiße Schild mit den vier diagonalen Streifen, diese deutsche Sehenswürdigkeit: das Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung.

Guofeng Wang, 58 Jahre alt, geboren, aufgewachsen und wohlhabend geworden in Shanghai, gibt Gas. Der Wagen schlingert ein wenig, die Tachonadel steigt auf 120… chinesische Höchstgeschwindigkeit… 130… auf der Autobahn zerstäubt der Regen, auf der Motorhaube spiegelt sich der Stern… 140… 150… draußen teilt sich der Spessart links und rechts der Straße, Wolkenfetzen hängen in den dunklen Tannen… 160… 170… in den Tälern das rot-weiße Geschachtel der Einfamilienhäuser. Deutschland sieht sehr deutsch aus an diesem Morgen, das Auto riecht sehr nach Auto, und die Frauenstimme vom Navigationssystem sagt: »Prepare to follow the road

Wang fährt jetzt 180.

Zwei dunkle Mercedes-Limousinen jagen von Frankfurt nach Würzburg. Hinter getönten Scheiben sitzen fünf Herren aus Peking und Shanghai, alle mit digitalen Kameras vor ihren Bäuchen und Mobiltelefonen in ihren Gürtelhalftern. Nach jeder Zigarettenpause wechseln sie sich beim Fahren ab, Guofeng Wang, Qing Li, Pingsheng Ding, Xin Lui und Kan Chen – nicht steinreich, aber sehr gehobener Mittelstand. Je 2000 Euro haben sie beim deutsch-chinesischen Reiseunternehmen Caissa für einen Urlaub bezahlt, der in China als Traumreise gilt: Autobahnfahren in Deutschland. Frankfurt, Würzburg, München, Baden-Baden, Frankfurt in sechs Tagen. Deutschland, schnell, schnell, mit kurzen Stopps an Postkartenklischees. Die Männer bereisen einen Mythos, der für sie schwer zu begreifen ist wegen seiner seltsamen Mischung aus Mittelalter und Hochmoderne. Deutschland – der Reiseleiter Jun Ding sagt »Doi Tse Lan« dazu –, Doi Tse Lan also, das sind zum einen die Märchen der Brüder Grimm, die die fünf Männer als Kinder in der Schule lasen. Und das sind zum anderen schnelle, teure Autos, die sie jetzt auch in China kaufen können. Vor allem aber ist Doi Tse Lan dieses verzagte Land, in dem der Transrapid erfunden wurde, aber nicht gebaut wird. Er fährt nun in Shanghai.

Guofeng Wang und seine vier Begleiter beschleunigen in einem entschleunigten Land. Denn sie sind nicht nur in diesem Augenblick, auf dieser Autobahn, auf der Überholspur. Sie sind es auch global. Fünf Männer aus einem Land, das gerade sein erstes Wirtschaftswunder erlebt, reisen durch ein Land, das sein letztes Wirtschaftswunder hinter sich zu haben glaubt. Fünf Männer aus einem Land der Zuversicht reisen durch ein Land des Missmuts.

Guofeng Wang muss bremsen jetzt. Vor ihm ist ein Wohnmobil ausgeschert. Es sind sehr viele Wohnmobile unterwegs in Doi Tse Lan.

Auf dem Frankfurter Flughafen, einen Tag ist das her, hatten sie ihre Rollköfferchen zum Mietwagenstand gezogen, dem ersten Ziel dieser Reise. Mehrmals ging das Sehnsuchtswort Mercedes über den Tresen, schließlich kamen die Schlüssel mit dem Stern zurück. Als die Dame am Schalter fragte, worauf sie sich am meisten freuten, hatten sie schüchtern genickt, gelächelt und nur ein Wort gesagt:

»Speed

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