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Kindheit in Rostock an der Ostsee, aus Sicht der Aufklärung und der rationalistischen Medizinwissenschaften (1807)

Dieses lebendige Bild der gesundheitlichen Bedingungen und des materiellen Lebens der einfachen Leute in Rostock spiegelt sowohl eine genaue Beobachtung wie auch ein starkes Interesse an gesellschaftlichem Fortschritt wider. Dennoch verfällt auch dieser Autor, A.F. Nolde, in die für die gebildete Schicht seiner Zeit typischen Warnungen vor den körperlichen, sexuellen und psychischen Gefahren des Stillens. Seine Besorgnis hierüber reflektiert eine Voreingenommenheit über die vermeintlichen moralischen Mängel der Lebensweise der ärmeren Schichten.

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Medicinisch-anthropologische Bemerkungen über Rostock und seine Bewohner

A.F. Nolde


[ . . . ]

Daß die Anzahl der im Kindbette gestorbenen Personen zu der Summe der Geburten, nach einer Reduktion der Zwillingsgeburten, sich wie eins zu 781/7, und zu der ganzen Summe aller Gestorbenen etwa wie 1 zu 64 verhält, ist in der That ein sehr niederschlagendes Resultat, wovon der Grund nirgends anders, als in einer vernachlässigten oder verkehrten Behandlung der Kreißenden und Wöchnerinnen zu suchen ist [ . . . ]

Ehe ich mich zu einer andern Materie wende, habe ich noch Einiges über die physische Beschaffenheit der Kinder beyzufügen, die ich hier nicht übersehen darf, da diese einen so wichtigen Theil der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen, die durch sie von Zeit zu Zeit ihren fortdauernden Verlust ersetzen, und sich gewissermaßen kompletiren muß. Ich unterscheide hier aber mit gutem Vorbedacht die in einer gesetzmäßigen Ehe gebornen Kinder von den unehelichen. In der körperlichen Beschaffenheit der letztern, so wie in ihrer Behandlung, liegt unstreitig der Grund von der großen Sterblichkeit unter denselben, und diese ist gewiß bedeutend genug, um einen nachtheiligen Einfluß auf das Ganze zu haben. Ich glaube, ohne Bedenken annehmen zu können, daß kaum der vierte Theil von ihnen das Ende der ersten Kinderjahre erreicht. Die außer der Ehe geschwängerten Mütter sind mehrentheils aus den untern Ständen. Diese suchen denn gewöhnlich Ammendienste, um nicht ganz außer Brod zu kommen: denn ihre Liebhaber geben ihnen entweder nicht so viel, daß sie selbst davon mit ihrem Kinde leben können, oder sie verlassen die Unglückliche, der sie die Ehe zugesagt, oder andere Versprechungen gethan hatten, wohl ganz. Die Mutter bringt also ihr Kind bey andern Leuten unter, und giebt es, wie man hier sagt, entweder auf die Brust, oder auf den Löffel. Im ersten Fall stillt die substituirte Mutter ihr eigenes Kind zu gleicher Zeit, und natürlich reicht sie dem fremden Kinde erst dann die Brust, wenn das ihrige schon gesättigt ist. Damit muß es zufrieden seyn; und will es das nicht, so giebt man ihm die wohlfeilste Kost, Kartoffeln und Mehlbrey, um es nur satt zu machen und in Ruhe zu erhalten. Wird ein solches Kind aber blos auf den Löffel ausgethan, so erhält es die zuletzt genannten Speisen allein. Wie nachtheilig eine solche Ernährungsart ist, weiß ein jeder meiner Leser. Dazu kommt noch in den meisten Fällen ein hoher Grad von Schmuz und Unreinigkeit, der vollends alles verdirbt. Wie ist es denn möglich, daß ein Kind unter so ungünstigen Verhältnissen noch sein Leben erhalten, vielweniger gedeyhen und zunehmen kann? Mehrentheils bekommen sie bald dicke Bäuche mit Verstopfung, oder übelriechende und erschöpfende Diarrhöen, zehren sich im Gesicht, an Armen und Beinen bis zu Skeletten ab, schreyen und wimmern unaufhörlich, daß man von Stein seyn müßte, wenn man nicht durch den Anblick eines solchen Jammerbildes innigst gerührt werden sollte [ . . . ] Aber so etwas sehen solche gleichgültige Mütter nicht; sonst würden sie unmöglich Bequemlichkeit und Vergnügen der süßen Mutterpflicht, ihre Kinder selbst zu stillen, vorziehen.

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