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Die Kindheit und Jugend eines preußischen Adligen im späten 18. Jahrhundert. Aus den Erinnerungen Friedrich August Ludwigs von der Marwitz (Rückblick)

Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837) erlangte in den Jahren 1806-1815 militärischen Ruhm. Im gleichen Zeitraum tat er sich als Leitfigur der im Landadel verankerten konservativen Opposition gegen die Stein-Hardenberg Reformen in Preußen hervor. In diesem brilliant gezeichneten Portrait seiner Familie, Kindheit und Jugend beschwört Marwitz die Erinnerung an das Leben und den Geist der preußischen Militäraristokratie des 18. Jahrhunderts. Wie seine Memoiren zeigen, kämpfte er darum, sich als ein seinen berühmten Vorfahren würdiger Soldat zu beweisen, doch wurde seine intellektuelle Bildung deswegen keineswegs vernachlässigt. Seine Beschreibung seiner Bildung deutet auf die Komplexität der kulturellen Identität des deutschen Adels hin.

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a. Autobiografie (1832–37)

[Die Vorfahren]

Ich, Friedrich August Ludwig v. der Marwitz, bin geboren den 29. Mai 1777 zu Berlin, in der Wilhelmstraße, in dem damals Vossischen Hause, welches jetzt der Palast des Prinzen August von Preußen ist. Getauft wurde ich von dem berühmten Propst Spalding an der Nikolaikirche. Mein Vater war Behrend (oder Berndt) Friedrich August v. der Marwitz, Königlicher Kammerherr, früher Hofmarschall des Prinzen Ferdinand, Bruder König Friedrichs II., und seit 1786 Hofmarschall König Friedrich Wilhelms II. Meine Mutter war Susanne Sophie Marie Louise v. Dorville, einzige Tochter des Königlichen Staatsministers Johann Ludwig v. Dorville, aus seiner zweiten Ehe mit Charlotte Friederike v. Béville.

Das Geschlecht derer v. der Marwitz gehört zu den ältesten der Mark Brandenburg und ist von Ursprung in der Neumark und auch in Pommern ansässig gewesen [ . . . ]

[Kindheit]

Ich ward also aus dem erwähnten Geschlechte zu Berlin am 29. Mai 1777 geboren. In meiner ersten Kindheit wuchs ich mit meinen beiden gleich auf mich folgenden Schwestern auf. In Berlin war damals, mehr noch als in anderen deutschen Städten, bei Hof und unter dem Adel die französische Sprache allgemein [ . . . ]

Ich lernte also von Kindesbeinen an französisch mit dem Deutschen zugleich, und das eine war mir vollkommen so geläufig als das andere. In dem Hause meiner Eltern ward beständig französisch gesprochen, wie in allen andern zu damaliger Zeit, mit denen wir Umgang hatten. Aber schon in meinen Kinderjahren trat die oben erwähnte Veränderung ein, das Deutsche gewann die Oberhand, und schon meine jüngsten Geschwister, zehn bis fünfzehn Jahr jünger wie ich, konnten dessen nicht mehr als Kinder durch die bloße Übung mächtig werden, sondern mußten es nach Regeln erlernen.

Wie ich vier Jahre alt war, also 1781 oder Anfang 1782, bekam ich mit meinen Schwestern eine Gouvernante aus der Kolonie, oder wie man damals sagte: »eine französische Mamsell«. Sie hieß Mamsell Bénézet und war ein sehr böses Weib, die uns viel ohrfeigte, im Winter in einem kalten Winkel einsperrte, im Sommer aber zur Strafe ans Fenster stellte, mit dem Rücken nach selbigem, so daß uns die Sonne durch die Scheiben auf den Kopf brennen mußte. Sie war aber fleißig, hielt uns zur Ordnung an, lehrte uns Lesen, Schreiben, Rechnen und auch etwas Geographie.

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Im ganzen war die Erziehung dahin gerichtet, daß wir nie etwas Unrechtes oder gar Böses sehen, erfahren, noch viel weniger aber denken oder tun durften, sondern daß wir jederzeit unsere Schuldigkeit tun mußten; daß einer hinter dem Rücken irgend etwas verübt, beim Lernen faul gewesen oder nicht getan hätte, was er sollte, das konnte gar nicht vorkommen. Aber von dem später aufgekommenen Bestreben, alles auf das bloße Wissen zu setzen und den Kindern mit dem Erlernten den Kopf so voll zu pfropfen, daß sie Gott und die ganze Welt darüber verkehrt ansehen, war damals gottlob noch nicht die Rede. Lärm vor unsern Eltern zu machen, sich auf Sofas und Stühlen umherzuwälzen, bei Tisch schmutzig und ungeschickt zu essen u. dgl., wie man jetzt von so vielen Kindern sieht, war gänzlich unerhört. Wenn wir zu unseren Eltern in das Zimmer kamen, machten wir an der Tür unsere Reverenz, näherten uns und küßten sowohl ihnen als jedem anwesenden Fremden die Hand. [ . . . ]

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