GHDI logo


Joseph Görres, „Die künftige teutsche Verfassung” (18. August 1814)

Im Jahr 1814 veröffentlichte Joseph Görres (1776-1848) die folgende Schrift über die „künftige teutsche Verfassung“ im Rheinischen Merkur, einer politisch liberalen, aber kulturell traditionalistischen Zeitschrift, die er im selben Jahr gegründet hatte und deren Herausgeber er blieb, bis die preußischen Behörden die Publikation 1816 verboten. Görres, ein katholischer Publizist, Gelehrter und Beamter im Bildungsbereich, war ursprünglich ein begeisterter Anhänger des französischen Revolutionsgedankens gewesen. Schließlich jedoch engagierte er sich während der Befreiungskriege im publizistischen Kampf gegen Napoleons Hegemonie über Deutschland. Im Einklang mit den im Rheinischen Merkur vertretenen traditionalistischen und gleichzeitig liberalen Standpunkten befürwortet der Artikel eine geschlossene, geeinte, aber föderalistische deutsche Nation (unter österreichischer Führung). Dieser Staat, so Görres, würde in der Lage sein, dem wiederholten feindlichen Einfallen fremder Mächte zu widerstehen. Er skizziert ein Gegenmodell zur völligen Beseitigung des Elements der Fürstenmacht, wie es die Revolutionäre anfangs unter dem Einfluss des „Taumelbechers französischer Freiheit“ getan hatten. Während er die radikale Vorgehensweise der Revolutionäre nicht unterstützte, teilte er ihren Widerwillen dagegen, dass die durchgreifende revolutionäre Tabula rasa durch reaktionäre Fürsten ersetzt wurde, die den „Schirlingstranke von Napoleons Despotismus“ getrunken hatten. Im Gegensatz zu den Jakobinern beispielsweise fasst er eine organisch gewachsene deutsche Freiheit ins Auge. Deren Bestandteile umfassen eine „verantwortliche“ Regierung der Fürsten in Rücksprache mit einem Rat und eine ständische Verfassung, die eine modernisierte Form der alten Reichsverfassung darstellt. Görres wollte eindeutig traditionelle Bestandteile mit den liberalen politischen Prinzipien der Aufklärung in Einklang bringen, die sich aus der Revolution entwickelt hatten. So konservativ auch der Unterton in Görres’ Vision erscheinen mag, veranlassten doch seine liberalen Überzeugungen und der spätere Widerstand gegen die konservative Restauration die preußischen Behörden, den Publizisten zu verfolgen. Seine Flucht führte ihn zunächst nach Straßburg und schließlich nach München, wo er Professor (1827) und Mitbegründer der Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland (1838) wurde.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      Beginn des nächsten Kapitels

Seite 1 von 2


Die künftige teutsche Verfassung


[ . . . ] Was uns Not tut vor Allem, und was zuerst durch die Verfassung gesetzlich begründet werden muß, ist innere Festigkeit und geschlossene Haltung dem Ausland gegenüber. Haben alle andren Völker nur eine einzige Seite gegen uns zu decken, dann sind wir, wie die Persier in Asien, nach allen Seiten bloß gegeben. Deutschland ist der Kreuzungspunkt, wo alle Völkerstraßen sich begegnen; alles stößt und drängt, wie von einer inneren Schwerkraft getrieben, gegen uns in der Mitte an; und besäßen die Spanier noch die Niederlande, kein Volk könnte unruhig in seinem Sitze sich bewegen, ohne daß die Wellen irgendwo unmittelbar an die Ufer unseres Landes schlügen. [ . . . ]

Darum ist unsere Stellung auf der hohen Warte des gesamten Weltteils, von wo aus wir mit unablässiger Wachsamkeit auf alle Völkerbewegungen zu achten haben; sicher, daß jede, die wir sorglos vorübergehen lassen, zu unserm Verderben führt. Wie das alte Germanien mit einem Walle von Markmännern und kriegerischen Völkerschaften im Süden gegen die Weltherrschaft der Römer sich umgab: so müssen wir rundum mit einer solchen Wehre uns umgürten, und mit einer Schildburg uns umschließen. Die bewaffneten Völker werden die Mauern dieser großen Feste sein, und hoch über ihre Zinnen werden die Fürsten, starke Türme, sich erheben, die weit umschauen in die Ferne und alle Zugänge sichern und bewehren. Innen muß alles dann ein Leben und ein Bund zum Schutz und Trutze sein, damit beim ersten Schlage, der an ferner Grenze an Schildesrand auffällt, alles aufmerkend horche, und beim wirklichen Angriff alle insgemein dem angegriffenen Stamme zu Hilfe eilen. Dann allein kann es uns gelingen, daß wir die Schmach nicht wieder sehen, daß Feindesheere aus Donau, Elbe, Weser, Main und Lech und Inn unser Herzblut trinken. Wir können in Ruhe unseres Wohlstands pflegen, und dürfen nicht besorgen, daß er mit jedem Jahrhundert einmal dem frechen Raub zur Beute werde.

Dazu muß alles im gemeinen Wesen sich stark und fest zusammenfügen, also daß die Bande in ruhigen Zeiten lose und nicht drückend das Einzelne umschlingen, im Druck und Not und dem Anstoß fremder Gewalt aber immer stärker sich zuziehen. Alle benachbarten Völker haben zu diesem Zwecke die Einheit der monarchischen Form ohne Mittelbehörden gewählt, und dadurch für den Angriff große Mittel, für die Verteidigung starke Schnellkraft sich gewonnen, dabei aber auch Vieles an innerem eigentümlichem Leben aufgeopfert. In Deutschland widerstrebt zu oberst die religiöse Entzweiung dieser Einheit; ihr widerstrebt der uralte selbstständig eigentümliche Stammesgeist, der wie in Bergzüge die Nation in sich abgeteilt und gegliedert hat; die liebevolle Anhänglichkeit der Völkerschaften an ihre Fürstenstämme; endlich die fromme Achtung für das Herkömmliche und den urkundlichen und durch die Verjährung langer Zeitläufte gesicherten Besitzstand. Darum ist Deutschland die schwerere Aufgabe zu Teil geworden, die Vielherrschaft durch die Macht der Verfassung und den Gesamtwillen der Nation also zu bemeistern, daß sie stark wie die Einheit, wenn auch nicht zum Angriff, doch für die Verteidigung wirkt. Größer ist dann auch der Preis, der auf der Lösung steht; denn das Beste ist die starke Einheit in der freien Vielheit, und das Gegenteil führt nur allzuleicht zu Erstarrung, Tod und Despotismus.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite