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Friedrich Schiller, Auszüge aus Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)

Friedrich Schiller (1759-1805) erlangte große Berühmtheit als Dichter, Dramatiker, Historiker und Philosoph und auch als Goethes intellektueller Partner und Gleichgestellter. In diesem Buch in Briefform brachte er seine Überzeugung zum Ausdruck, dass der Weg der Menschheit zu Vernunft und Selbstregierung erst durch eine Erziehung zur ästhetischen Selbstbewusstheit führen muss und zu einem Verständnis der Rolle der Kunst bei der Formung von Geist und Seele. In diesen Auszügen stellt Schiller eine zeitgenössische Menschheit dar, die, wie der tragische Verlauf der Französischen Revolution zu zeigen schien, unfähig ist, gemeinschaftliche Harmonie zu erreichen. Die Gesellschaft ist gespalten durch Ungleichheit. Der Staat oktroyiert innere Ordnung mit seiner eigenen Gewalt auf und beteiligt sich rein eigennützig an Kriegen. Die „Geschäfte“ lassen das Herz abkühlen. Daher die Notwendigkeit ästhetischer Selbsterkenntnis, die eine moderne Version dessen ermöglicht, was Schiller wie viele andere deutsche Intellektuelle seiner Zeit als das ideale Gleichgewicht unter den alten Griechen zwischen Kunst und Leben betrachtete. Schillers Text weist voraus auf die Vision unzähliger einflussreicher Autoren des 19. Jahrhunderts, darunter Karl Marx und Friedrich Nietzsche.

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Über die ästhetische Erziehung des Menschen

Friedrich Schiller


Dritter Brief

Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an, als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Spontaneität noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bei dem nicht stille steht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm antizipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu tun, das Werk der Not in ein Werk seiner freien Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.

Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her, und findet sich --in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freiheit diesen Stand wählen konnte; die Not richtete denselben nach bloßen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Notstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen, und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden sein – und schlimm für ihn, wenn er es könnte! Er verläßt also, mit demselben Rechte, womit er Mensch ist, die Herrschaft einer blinden Notwendigkeit, wie er in so vielen andern Stücken durch seine Freiheit von ihr scheidet, wie er, um nur Ein Beispiel zu geben, den gemeinen Charakter, den das Bedürfnis der Geschlechtsliebe ausdrückte, durch Sittlichkeit auslöscht und durch Schönheit veredelt. So holt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit nach, bildet sich einen Naturstand in der Idee, der ihm zwar durch keine Erfahrung gegeben, aber durch seine Vernunftbestimmung notwendig gesetzt ist, leiht sich in diesem idealischen Stand einen Endzweck, den er in seinem wirklichen Naturstand nicht kannte, und eine Wahl, deren er damals nicht fähig war, und verfährt nun nicht anders, als ob er von vorn anfinge, und den Stand der Unabhängigkeit aus heller Einsicht und freiem Entschluß mit dem Stand der Verträge vertauschte. Wie kunstreich und fest auch die blinde Willkür ihr Werk gegründet haben, wie anmaßend sie es auch behaupten, und mit welchem Scheine von Ehrwürdigkeit es umgeben mag – er darf es, bei dieser Operation, als völlig ungeschehen betrachten, denn das Werk blinder Kräfte besitzt keine Autorität, vor welcher die Freiheit sich zu beugen brauchte, und alles muß sich dem höchsten Endzwecke fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt. Auf diese Art entsteht und rechtfertigt sich der Versuch eines mündig gewordenen Volks seinen Naturstaat in einen sittlichen umzuformen.

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