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Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777)

Gotthold Ephraim Lessing (1729-81), ein namhafter Dramatiker und Philosoph, verschob das deutsche Geistesleben weg vom optimistischen (und häufig abstrakten und deduktivistischen) Rationalismus seiner Vorgänger Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff. Wenngleich er in der christlichen Tradition verankert war, machte er sich doch immer stärker den aufklärerischen Deismus zu Eigen, und nach seinem Tod wurden gegen ihn Vorwürfe eines pantheistischen/atheistischen Spinozismus erhoben. In diesem gefeierten und einflussreichen Text leistet Lessing einen wichtigen Beitrag zum entstehenden deutschen Historismus, d.h. zur Erklärung und Deutung der Welt unter dem Aspekt sich historisch entwickelnder Abläufe. Er führt an, dass sich der universell rationale Kern religiöser Wahrheit dem Menschen im Laufe der Geschichte und in Form eines historisch entstehenden religiösen Verstehens offenbart, zu dem kulturelle Traditionen außerhalb des Juden- und Christentums ebenfalls ihren Teil beitrügen. Kontrovers, aber für viele gebildete Deutsche auch überzeugend war Lessings Ansicht, dass das orthodoxe Christentum von höheren Formen des religiösen Verstehens abgelöst würde, die mit der universellen Vernunft vereinbar seien.

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Die Erziehung des Menschengeschlechts

Gotthold Ephraim Lessing


§ 1: Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.

§ 2: Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.

§ 3: Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten in der Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben und viele Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet.

§ 4: Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.

§ 5: Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bei seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maß halten müssen.

§ 6: Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene Begriff unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem dieser Teile ein Merkzeichen.

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