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Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg, „Allergnädigst anbefohlenes Gutachten über die Verbesserung des Systematis in internis” für Maria Theresia (14. April 1773)

Beim Folgenden handelt es sich um einen Auszug eines unveröffentlichten Manuskripts, das nahezu 250 Seiten umfasst. Staatskanzler Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg (1711-94) kritisiert darin die wirtschaftliche Schwäche der österreichisch-böhmischen Erblande und beschwört die politischen Maßnahmen und die auf Statistiken beruhenden Praktiken des interventionistischen Dirigismus im friderizianischen Preußen sowie Reformen von oben als Weg zur Bereicherung der Gesellschaft und damit der Regierung. Doch er drückt auch Auffassungen aus, die im Zusammenhang mit den französischen physiokratischen Theoretikern standen, und zieht wirtschaftlichen Liberalismus und Freihandel dem damals aktuellen Zollprotektionismus vor, der lokale Hersteller zum Nachteil der Gesamtwirtschaft begünstigte. Kaunitz argumentiert außerdem für eine wirtschaftsorientierte Bildung des gemeinen Volkes und eine Förderung von aktivem „Nationalgeist“ oder Vaterlandsliebe.

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1mo Mit was für Gebrechen der Staats Körper behaftet sey.

Ad 1mo. Wenn man den inneren Zustand der deutschen Erblande nur einigermassen einsiehet, so fallet allzu überzeugend in die Augen, daß selbige bey weitem nicht in dem blühenden Stande, worinnen sie seyn könnten, sich befinden, und einige etwas mehr, andere etwas weniger, aber alle entkräftet und so zu sagen mit der Auszährung behaftet sind. Das Volk ist fast durchgängig arm, unterdrückt und mühseelig, die Landstädte sind öde, mit Schulden überhäuft und in ihren Einwohnern sehr vermindert. Der Nahrungs-Stand, die Fabriken und überhaupt die Industrie nebst dem Commercio, anstatt zu mehreren Kräften zu gelangen, gerathen immer mehr in Verfall. Die Schuldenlast des Staats hat sich seiter dem 10. Friedensjahren nicht vermindert, sondern vergrössert, und anstatt daß währender dieser Zeit die Erblande zu Übertragung eines künftigen Kriegs neue Kräften samlen sollen, bekommen sie von Tage zu Tage eine traurigere Aussicht. Vor diesem ware der erbländische Adel unter den reichesten von Europa zu zehlen; vor dermalen fallet dem grösten Theil schwer, zu seinen Nothwendigkeiten Rath zu schaffen. Und seine eigene Dürftigkeit setzet ihn ausser Stande, seinen Unterthanen die benöthigte Hülfe zu leisten. Die Geistlichkeit, so vormal in Überfluß lebte und dem Staat mit [ihren] subsidiis praesentaneis unter die Arme greiffen konnte, findet sich mit dem Adel fast in gleichen bedrängten Umständen. Und es bleibet kein Stand übrig, welcher nicht eine merkliche Abnahm der innerlichen Kräften verspühre. [ . . . ]

2do Welche Staats-Krankheiten wegen der Gefahr die erste und schleunigste Hülfe nöthig haben. [ . . . ]

3tio Aus was für Veranlassungen beyde Arten der politischen Krankheiten entspringen.

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