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Joseph Görres über die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches (ca. 1806)

Joseph Görres verhöhnt das konservative Bedauern über den Untergang des Reiches und beschwört in einem Ausdruck frühen liberal-demokratischen Nationalismus eine revolutionäre Zukunft für „unsere Nation“.

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Weine, Germania! weine! dein Schutzgeist ist von dir gewichen; die Vorsicht hat ihn in höhere Sphären entrückt und er wird nun in den Archiven des Himmels volle Befriedigung für seinen antiquarischen Geist finden. Was wird dich nun vor dem Einbruche des Stromes jener alles zertrümmernden Revolutionswut sichern? wer den Schild vor dich halten, daß die Megäre Aufklärung dich nicht verschlingt? Ach! keine zehn Jahre werden vergehen, und du wirst Galliens Schicksal erleben; wilde Revolutionärs und Freiheitsschwindler werden in deiner Mitte aufstehen und nicht eher ruhen, bis sie auch dir die blutige Freiheitskappe aufgesetzt haben.

Dann, o des Greuels! wird man allen Adeligen die Sterne und Ordensbänder abreißen, die Wappenschilder zerbrechen; alle Güter der Kirche werden profanen Händen anheim fallen; alle Mönche werden entkuttet, alle Nonnen entschleiert werden; Räte und Direktoren werden an die Stelle deiner gesalbten Häupter, deiner mildtätigen, gerechten, menschenfreundlichen Fürsten treten. Der Bauer und der Bürger, die die Natur doch eigentlich zum Lasttier bestimmte, werden stolz das Haupt emporheben und nach ihren Menschenrechten fragen; sie werden sich aufbäumen und sprechen: »Wir sind freie Männer; verantwortet euch, Despoten! Warum usurpiertet ihr bisher unsere Befugnisse?« Die Guillotine wird dann schrecklich die Stammbäume dahinmähen und die angesehensten Männer würgen. Herzoge und Grafen werden an ihrem Mordeisen bluten, die Freiheit wird deine schönen Gefilde mit ihrem giftigen Hauche verpesten, und Jammer und Elend bei dir herrschen. So traurig sind die Folgen des Hintritts dieser hohen Leiche.

Doch, verbeißen wir unsern Schmerz, Mitbürger! Vergraben wir ihn in das Innerste unserer Seele, um imstande zu sein, das Leichenbegängnis des Erblichenen um so würdiger zu feiern. Mit aller, der Größe unserer Nation und der Größe unseres Verlustes angemessenen Pracht soll dies Trauerfest begangen werden. Es soll sich schämen der Deutsche, der nicht durch seine Gegenwart und sein Vermögen sein Scherflein zur Verherrlichung dieses Nationalfestes beiträgt. Acht Kurfürsten werden die Leiche in vollem Ornate zu Grabe tragen; alle übrigen Kinder, Enkel und Urenkel, lauter gekrönte Häupter, weinend und in schwarzen Dominos ihr folgen, 50 000 Flöten werden dabei seufzen, 80 000 Waldhörner stöhnen, 90 000 Fagotte wimmern. Hunderttausend Feuerschlünde werden der Unterwelt den Verlust der obern zubrüllen. Die Natur wird nicht säumen, das Himmelsgewölbe schwarz zu behangen, eine Sonnenfinsternis zu veranstalten und Berge zu spalten. Der Kaiser selbst wird die Leichenrede halten, und der Heilige Vater die Seelenmesse lesen. Deutschlands Töchter, in das Gewand der Unschuld gekleidet, werden die Leiche mit Eichenlaube bekränzen und eine Zypresse auf das Grab pflanzen. Vergißmeinnicht werden dem Boden entsprießen und ein stolzer Marmor folgende in echt lapidarischem Stile und mit dichterischem Feuer verfaßte Grabschrift der Nachwelt überliefern:

Von der Sense des Todes gemäht, atemlos und bleich
Liegt hier das Heilige Römische Reich.




Quelle: Joseph Görres, Rede auf den Untergang des Heiligen Römischen Reichs, ca. 1806, aus Jakobinerschriften. Salzburg, 1953, S. 24-26.

Abgedruckt in Jost Hermand, Hg. Von Deutscher Republik 1775-1795: Texte radikaler Demokraten. © Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1968, S. 84-85.

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