GHDI logo


Kaiser Joseph II. zur Struktur und politischen Lage der österreichischen Monarchie und des Heiligen Römischen Reiches (1767/68)

Die folgende Denkschrift wurde auf Französisch verfasst und ist an den Bruder des Kaisers, Leopold, Großherzog der Toskana (1765-90) und späterer römisch-deutscher Kaiser (1790-92) gerichtet. Darin deckt Joseph II. die Schwachstellen des Reiches auf (unter denen die Glaubensspaltungen noch immer eine große Rolle spielen), verschreibt sich jedoch einer gewissenhaften Ausübung seiner kaiserlichen Befugnisse zum Wohle „des Vaterlandes“ und des „Corpus Germanicum“. Seine nach-barocke, realistische und rationalistische Gesinnung kommt hiermit deutlich zum Ausdruck.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 7



[ . . . ]

Wenden wir uns dem Reiche zu. Obgleich ich seit mehr als zwei Jahren dessen Oberhaupt bin, wäre es mir dennoch unmöglich, Ihnen sein System im einzelnen zu entwickeln. Es existiert nur in den Büchern, und ich würde selbst Montesquieu nicht zutrauen darzulegen, was augenblicklich durch die verschiedenen Fürsten und Stände beobachtet wird. Jeder denkt nur an sich und scheint sich zur Regel gemacht zu haben, den andern zu beunruhigen. Jedes Bekenntnis, jede Gemeinschaft, jedes kleine Individuum hat eine eigene Art und Weise, die Dinge je nach seiner kleinen Politik, seinem Belieben oder Interesse zu sehen, und richtet sich daher in seinen Handlungen nur nach diesen, die keineswegs auf das gemeine Wohl abzielen. Ein Oberhaupt erkennen sie nur dem Namen nach an, und seine Autorität und die der Gesetze hat nur insoweit Kraft, als sie ihnen bequem sind. Die Gerechtigkeit weicht stets der Politik. Die Straflosigkeit kann sich ohne Scham offen breitmachen, vorausgesetzt, daß sie durch Gewalt gestützt wird. Kurz, das Reich setzt sich aus verschiedenen Fürsten zusammen, deren Interessen diametral entgegengesetzt sind, so daß das allgemeine Wohl niemals im geringsten in Betracht kommt. Die auswärtigen Mächte, die an der Uneinigkeit und Schwäche des Reiches, aus der sie die größten Vorteile ziehen, interessiert sind, begünstigen sie bei jeder Gelegenheit. Die Wahlkapitulationen haben ohnedies die kaiserliche Würde und Autorität derartig eingeschränkt, daß der Kaiser nicht nur gehindert ist, nach seinem Belieben zu handeln, sondern auch das allgemeine Wohl nicht ins Auge fassen kann, obwohl jedermann das erkennt.

[ . . . ]

Nach dem Bilde, das ich soeben entworfen habe, wird es Ihnen ein Leichtes sein, zu beurteilen, daß es unmöglich ist, etwas Großes zu unternehmen oder zu erhoffen. Dies würde natürlich eine vollständige Harmonie aller Teile erfordern, die zusammen das Reich bilden. Abgesehen von der natürlichen Neigung der Stände dazu suchen auch alle Mächte, wie ich eben gesagt habe, diesem Einklang Hindernisse in den Weg zu legen. Dabei wenden sie Geld, Drohungen und alle erdenklichen Mittel an.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite