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Manifest der Paulskirchenkundgebung in Frankfurt (29. Januar 1955)

Nachdem die Stalin-Initiative vom März 1952 im Sande verlaufen war, blieb die Kritik an Adenauer, er verhindere durch sein entschiedenes Vorantreiben der Westbindung der Bundesrepublik die Wiedervereinigung, weiterhin stark. Die Kritiker organisierten sich schließlich 1955 und veranstalteten eine große Kundgebung in der Frankfurter Paulskirche, zu der prominente Vertreter des politischen und geistigen Lebens erschienen. Die Kundgebung ist auch im Zusammenhang mit der Debatte über die Wiederaufrüstung und der bundesrepublikanischen Mitgliedschaft in der NATO zu sehen, die zu diesem Zeitpunkt ihren Höhepunkt erreichte. Adenauers Antwort auf den Vorschlag, der nationalen Einheit den Vorrang zu geben, war, dass die Westintegration mit dem NATO-Beitritt erst abschlossen werden müsse, weil man dann aus einer Position der Stärke auch die Wiedervereinigungsfrage besser in Angriff nehmen könne.

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Am 29. Januar fand laut Frankfurter Allgemeine in der Frankfurter Paulskirche eine Kundgebung statt, zu der der Vorsitzende des DGB, Walter Freitag, der Evangelische Theologe Prof. Helmut Gollwitzer, der Vorsitzende der SPD, Erich Ollenhauer, und der Heidelberger Soziologe Prof. Dr. Alfred Weber eingeladen hatten.

An der Kundgebung, als deren Thema: “Rettet Einheit, Freiheit, Frieden! Gegen Kommunismus und Nationalismus!“ bezeichnet wurde, nahmen etwa 1000 Personen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, von verschiedener religiöser Überzeugung und auch aus verschiedenen politischen Richtungen teil, die jedoch einig in der Opposition gegen die derzeitige Politik der Bundesregierung in den Fragen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung sind. Über hundert in- und ausländische Journalisten hatten sich eingefunden.

Bei der Kundgebung sprachen: Der Soziologe Prof. Dr. Alfred Weber, Heidelberg, der Stellvertretende Vorsitzende des DGB, Georg Reuter, Düsseldorf, der evangelische Theologe Prof. Helmut Gollwitzer, Bonn, der katholische Theologe Prof. Dr. Johannes Hessen, Köln, der evangelische Pfarrer Ernst Langer, Gelnhausen, der frühere Innenminister Gustav Heinemann, Essen, und der Vorsitzende der SPD, Erich Ollenhauer.

Die Versammlung nahm durch Handerheben ein Manifest an, das folgenden Wortlaut hat:

Deutsches Manifest

Aus ernster Sorge um die Wiedervereinigung Deutschlands sind wir überzeugt, dass jetzt die Stunde gekommen ist, Volk und Regierung in feierlicher Form zu entschlossenem Widerstand gegen die sich immer stärker abzeichnenden Tendenzen einer endgültigen Zerreißung unseres Volkes aufzurufen.

Die Antwort auf die deutsche Schicksalsfrage der Gegenwart – ob unser Volk in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden kann oder ob es in dem unnatürlichen Zustand der staatlichen Aufspaltung und einer fortschreitenden menschlichen Entfremdung leben muss – hängt heute in erster Linie von der Entscheidung über die Pariser Verträge ab.

Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone muss die Chancen der Wiedervereinigung für unabsehbare Zeit auslöschen und die Spannung zwischen Ost und West verstärken. Eine solche Maßnahme würde die Gewissensnot großer Teile unseres Volkes unerträglich steigern. Das furchtbare Schicksal, dass sich die Geschwister einer Familie in verschiedenen Armeen mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen, würde Wirklichkeit werden.

In dieser Stunde muss jede Stimme, die sich frei erheben darf, zu einem unüberhörbaren Warnruf vor dieser Entwicklung werden. Unermesslich wäre die Verantwortung derer, die die große Gefahr nicht sehen, dass durch die Ratifizierung der Pariser Verträge die Tür zu Viermächteverhandlungen über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit zugeschlagen wird.

Wir appellieren an Bundestag und Bundesregierung, alle nur möglichen Anstrengungen zu machen, damit die vier Besatzungsmächte dem Willen unseres Volkes zur Einheit Rechnung tragen.

Die Verständigung über eine Viermächtevereinigung zur Wiedervereinigung muss vor der militärischen Blockbildung den Vorrang haben. Es können und müssen die Bedingungen gefunden werden, die für Deutschland und seine Nachbarn annehmbar sind, um durch Deutschlands Wiedervereinigung das friedliche Zusammenleben der Nationen Europas zu sichern.

Das deutsche Volk hat ein Recht auf seine Wiedervereinigung!



Quelle: Manifest der Paulskirchenkundgebung in Frankfurt (29. Januar 1955), Keesings Archiv der Gegenwart, 1955, S. 4984; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955. Göttingen, 1982, S. 484-85.

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