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Geheimer Bericht der sowjetischen Militärführung über die Ereignisse vom 17.-19. Juni 1953 (24. Juni 1953)

Der geheime Bericht der sowjetischen Militärführung in der DDR an die Regierung in Moskau über den Aufstand vom 17. Juni 1953 macht deutlich, dass die DDR-Regierung und die SED im Vorfeld schwere politische Fehler begangen und auf die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht angemessen reagiert haben. Während des Aufstandes ist die DDR-Führung weitgehend handlungsunfähig. Die Initiative liegt ganz bei den sowjetischen Militärs, die den Aufstand schließlich erfolgreich niederschlagen.

Der Bericht empfiehlt, weitgehende Konsequenzen aus den Ereignissen zu ziehen: Der von der Sowjetunion vorgegebene „Neue Kurs“ soll entschlossen verfolgt werden. Um das Wirtschaftswachstum zu steigern und die Versorgungslage der Bevölkerung zu verbessern, wird auch eine Reduzierung bzw. Aufhebung der hohen Reparationsleistungen und Besatzungskostenzahlungen der DDR an die Sowjetunion erwogen. Im politischen Bereich tritt der Bericht für eine klare Trennung der Verantwortlichkeiten von Staat und Partei sowie für eine Stärkung des ostdeutschen Parlaments ein. Walter Ulbricht soll aus der Regierung ausscheiden und sich auf seine Parteifunktionen konzentrieren. Die SED selbst soll auf allen Ebenen personell erneuert werden. Schließlich wird eine stärkere Regulierung des Grenzverkehrs in Berlin empfohlen.

Umgesetzt werden von den Empfehlungen in den kommenden Monaten vor allem die Wirtschaftsreformen. Dagegen behalten Ulbricht und die SED ihre politische Machtstellung.

Hinweis: Bitte bei der Verwendung dieses Textes für wissenschaftliche Zwecke berücksichtigen, dass es sich hierbei um die deutsche Übersetzung einer englischen Übersetzung des russischen Originals handelt.

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Streng geheim
Kopie Nr. 1

An Genossen V.M. Molotow
An Genossen N.A. Bulganin

Über die Ereignisse vom 17.-19. Juni 1953 in Berlin und der DDR und bestimmte Schlüsse aus diesen Ereignissen.

Das folgende Memorandum ist ein vorläufiger Bericht über die Ereignisse des 17.-19. Juni in Ost-Berlin und der DDR, über die Gründe der Wirren und über verschiedene praktische Schlüsse, die aus den genannten Ereignissen gezogen werden können. Bis jetzt waren wir nicht in der Lage, zu einem tiefgreifenden Verständnis der zugrunde liegenden Probleme zu kommen, da die Nachforschungen über die verhafteten Beteiligten an den Unruhen noch im Anfangsstadium sind. Die Frage der Ereignisse des 17. Juni, die eine große internationale Provokation darstellen und die im voraus von drei westlichen Staaten und ihren Komplizen innerhalb des westdeutschen monopolistischen Kapitals vorbereitet wurden, ist in diesem Memorandum nicht eingehend untersucht worden, zum Teil aus einem Mangel an Fakten zum gegenwärtigen Zeitpunkt und auch deshalb, da die genannten Angelegenheiten bereits in allgemeiner Form in der sowjetischen Presse weit verbreitet wurden.

In jedem Fall ist klar, dass der 17. Juni der sogenannte „Tag X“ war, d.h. der Tag offener Aggression gegen den demokratischen Sektor der DDR durch faschistische und andere Organisationen, die hauptsächlich unter der Führung des amerikanischen Geheimdienstes arbeiten.

Das Ansetzen des „Tages X“ auf den 17. Juni als Tag der Aggression der faschistischen Elemente ergibt sich scheinbar aus den folgenden Gründen: a) der Ankündigung des ZK des SED-Politbüros am 9. Juni diesen Jahres zum neuen politischen und wirtschaftlichen Kurs der DDR, dessen Ausführung jegliche Chancen einigermaßen bedeutsamer Unterstützung der faschistischen Aggression durch die Bevölkerung der DDR zunichte gemacht hätte; b) der amerikanischen Bemühungen, ein weiteres Anwachsen der Opposition gegen die aggressive Politik der USA in weiten Bereichen westeuropäischer Gesellschaftskreise abzuwehren und den Bemühungen, das Entstehen eines Konsensus in Westeuropa mit der Sowjetunion zu verhindern, sowie die gleichzeitige Bewegung zum Frieden hin auf der Grundlage der Anerkennung des vorherrschenden Einflusses der Sowjetunion in Ländern der Volksdemokratie einschließlich der DDR. Dies wird durch die gleichzeitige Aggression sowohl in der Tschechoslowakei als auch der DDR am Vorabend der Bermuda-Konferenz dreier westlicher Staaten deutlich; c) die Amerikaner und die Adenauer-Ollenhauer-Clique zogen die Unzufriedenheit der Arbeiter und anderen Werktätigen mit der Situation in der DDR in Betracht, die aus den Fehlern resultierte, die vom ZK der SED und der SKK [Sowjetischen Kontrollkommission] während ihrer Einführung der Politik des sogenannten „beschleunigten Aufbau des Sozialismus“ gemacht wurden. Adenauer hatte vor, diese Unzufriedenheit auszunutzen, um seine Position vor den anstehenden Bundestagswahlen im August/September dieses Jahres zu stärken; d) die Provokation des 17. Juni durch die Weststaaten und die Regierung Adenauers hatte ganz klar die Absicht, die Sowjetunion von ihrem gegenwärtigen Kurs in ihren Beziehungen zur DDR abzubringen.

Dieses Memorandum beinhaltet drei Hauptteile: I. Der Ablauf der Ereignisse in der DDR am 17.-19. Juni; II. Die wirtschaftlichen Probleme, vor welche die DDR vor dem Hintergrund der Ereignisse des 17.-19. Juni gestellt ist; III. Einige Schlüsse und Empfehlungen.

I. Der Ablauf der Ereignisse in der DDR am 17.-19. Juni.

1. Am Vorabend der Aggression.

Kurz nach dem SED-Parteitag (Juli 1952) und als Ergebnis des neuen Kurses zur „Beschleunigung des Aufbaus des Sozialismus“, der dort angenommen wurde, begannen in der DDR ernsthafte und ständig wachsende Unterbrechungen in der Versorgung mit Gütern zur Grundversorgung zu entstehen, insbesondere Fett, Fleisch und Zucker: im Winter 1952-53 gab es außerdem ernsthafte Versorgungseinbrüche bei Heizung und Elektrizität in den Städten. Dies führte zu dem Anstieg der Unzufriedenheit, hauptsächlich innerhalb der weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Im Dezember und Januar/Februar 1952 gab es einzelne Vorkommnisse kleiner und kurzlebiger Arbeiterstreiks innerhalb einiger Unternehmen; diese erregten jedoch nicht die Aufmerksamkeit des ZK der SED und der SKK-Organe. Im Januar-März 1953 wurden als Teil des neuen „Regimes der Sparsamkeit“ eine Zahl von Privilegien und Vorzugsbehandlungen, die von deutschen Arbeitern seit 1945 und in vielen Fällen auch davor genossen wurden, unter aktiver Beteiligung der SKK rückgängig gemacht (die Aufhebung der Bahnpässe, die Änderung der Krankheitstageregelung, die Abschaffung zusätzlicher Urlaubstage für Sanatoriumsaufenthalte, die Kürzungen in der Arbeitsunfähigkeitsversicherung für berufstätige Frauen, die zu Hausfrauen geworden waren, usw.). Weitere Preissenkungen für Konsumgüter geschahen seit dem Frühjahr 1952 nicht mehr. Im Gegenteil, die Preise der Lebensmittelmarken für Fleisch wurden um 10-15% erhöht unter dem Vorwand, die Qualität der Fleischprodukte sei gestiegen. All dies, sowie der Anstieg der Preise für Marmelade und künstlichen Honig (ein Produkt, das häufig von geringverdienenden Arbeitern konsumiert wird), erzeugte Unzufriedenheit unter den Arbeitern, die noch verstärkt wurde durch das Versäumnis der Partei und der Regierung, nach dem 2. SED-Parteitag Schritte zu unternehmen, um die Situation der großen Masse der Arbeiter zu verbessern, mit Ausnahme der Lohnerhöhungen für ITR im Juli 1952 sowie für Facharbeiter in den fünf Hauptzweigen der Industrie.

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