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Über die Wirkung von Bebels „Die Frau und der Sozialismus” (um 1890)

Obwohl Bebels „Die Frau und der Sozialismus” (1879) unter dem Sozialistengesetz (1878-1890) ausdrücklich verboten war, fand es einen breiten Leserkreis. Für viele Frauen aus der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum stellte es das erste Fenster zu den Zielen und Idealen der Sozialdemokratischen Partei (SPD) dar. Der folgende Auszug bezeugt die Wirkung von Bebels Buch auf die junge Hildegard Wegscheider (1871-1953), die Tochter eines protestantischen Pastors in Berlin. Wegscheider wurde 1892 die erste preußische Frau, die mit dem Abitur die Hochschulreife erhielt; in der Folge ging sie nach Zürich zum Studium und promovierte 1898 als erste deutsche Frau. Sie arbeitete anschließend als Lehrerin, danach als Oberschulrätin. Als Abgeordnete der SPD saß sie von 1919 bis 1933 in der zweiten Kammer des preußischen Landtags.

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Zu Hause wurde ich nun zuerst in den häuslichen Arbeiten geschult. Ich lernte Nähmaschine nähen, ich lernte kochen, ich lernte nähen, Wäsche besorgen: Ich liebte diese Arbeiten nicht, aber sie mußten ja gemacht werden. Daneben ging die sogenannte höhere Bildung weiter: Gesangstunden, Klavierstunden, sogar Malstunden, für die keine Spur von Begabung vorhanden war, und abends las man Dramen mit verteilten Rollen, eine Woche Deutsch, eine Woche Französisch, eine Woche Englisch. Ich gab auch ein paar alten Damen französische Stunden. Wenn wir abends bei den Handarbeiten saßen, las der Vater vor: Rankes Geschichte der Päpste, Strauß: Leben Jesu, Renan: Leben Jesu, Beyschlag: Leben Jesu. Aber auch höher hinauf aus Kuno Fischers Geschichte der Philosophie die Bände über Descartes, Spinoza und Kant. Einmal in der Woche wurde ich als die Älteste dadurch ausgezeichnet, daß der Vater mit mir das Lukas-Evangelium und die Apostelgeschichte las. Auch einen kleinen Versuch, in die Kritik der praktischen Vernunft von Kant einzudringen, machte er.

Allmählich wurden wir auch in das gesellige Leben eingeführt, wir lernten tanzen, wir gaben Gesellschaften und wurden eingeladen. Dabei hatte ich kein Glück, denn ich liebte es, über das zu sprechen, was ich nicht verstand, weil ich jeden studierten Mann für eine Quelle der Weisheit hielt. Meine Freundinnen haben mir erzählt, wie schwer es war, mich als Tischdame einem jungen Herrn aufzuschwatzen.

Harmonischer verliefen die Abende, wo junge Kandidaten der Theologie abends bei uns waren. Da wurden die verschiedenen theologischen Richtungen durchdiskutiert, man war unter sich, man paßte zueinander. In dieser Zeit las ich heimlich Bebels ›Frau‹. Das Buch war noch verboten, aber, wie bekannt, wurde es überall gelesen. Ich entdeckte es auf dem Nachttisch meiner Mutter und mußte dafür sorgen, daß niemand merkte, daß ich es las. Es schlug wie ein Donner ein. Wir hatten schon Stuart Mill gelesen und seine liberale Stellung zur Gleichberechtigung der Geschlechter als Forderung der Gerechtigkeit anerkannt. Aber hier war etwas anderes. Man hat mit Recht gesagt, daß, wenn Marx das Geist gewordene Klassendenken war, Bebel das Fleisch und Blut gewordene Klassenleben darstellte. Die Wirkung war ungeheuer. Die ganze Form der Bildung und Gewöhnung, die man den Mädchen unserer Kreise angedeihen ließ, verflüchtigte sich zu nichts, dazu hörte man noch, Bebel hätte das Buch im Gefängnis geschrieben. Das war freilich nicht wahr, aber es gab doch seinen Worten den Ernst des Evangeliums eines Märtyrers.



Quelle: Hildegard Wegscheider, Weite Welt im engen Spiegel. Erinnerungen. Berlin-Grunewald, n.d. [1953], S. 21-22.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul, Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997, S. 103-04.

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