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Österreichische Denkschrift (1863)

Um für Unterstützung in den deutschen Einzelstaaten gegen eine kleindeutsch-preußische Nationalstaatsgründung zu werben, initiierte die österreichische Regierung im Juli 1863 einen Reformvorschlag für die Verfassung des Deutschen Bundes, der auf dem Fürstentag beraten werden sollte. Auf Anraten Bismarcks blieb der preußische König Wilhelm dem Treffen fern und brachte so die Initiative zu Fall.

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I. Je unsicherer sich die Lage Europas gestaltet hat, desto unabweislicher tritt an die deutschen Fürsten die Aufgabe heran, Angesichts der inneren und äußeren Gefahren, welche Deutschland bedrohen, sich rechtzeitig einer haltbaren Stellung zu versichern. Eine solche Stellung kann unter den Verhältnissen, die sich in den letzten Jahren ausgebildet haben, augenscheinlich nicht mehr einfach auf die bestehende Bundesverfassung gegründet werden. Seit langem sind die Bundesverträge von 1815 und 1820 in ihren Fundamenten erschüttert. Eine Reihe zusammenwirkender Thatsachen hat das Gebäude dieser Verträge allmählich immer tiefer untergraben. Der ganze Gang der inneren Entwickelung Deutschlands während des letzten Jahrzehnts hat auf die Institution des Bundes in ihrer bisherigen Gestalt so ungünstig als möglich eingewirkt. Theils hat die Unfruchtbarkeit aller Bemühungen, durch den Bund die gemeinsamen deutschen Interessen zu fördern, den Bund in der allgemeinen Meinung entwerthet, theils haben die Bedingungen, unter welchen die Bundesverträge geschlossen wurden, durch die politischen Ereignisse der Neuzeit folgenreiche Veränderungen erfahren. In Österreich wie in Preußen sind neue Staatseinrichtungen geschaffen worden, Einrichtungen, welche auf das Verhältniß beider Monarchien zum Bunde einen mächtigen Einfluß ausüben müssen, bis jetzt aber noch jeder Vermittelung und jedes regelmäßigen Zusammenhanges mit dem Organismus des Bundes entbehren. Auch alle anderen deutschen Regierungen haben wiederholt und feierlich das Bedürfniß einer gründlichen Neugestaltung der Bundesverfassung anerkannt. So hat sich denn in Deutschland unaufhaltsam ein fortschreitender Proceß der Abwendung von dem bestehenden Bunde vollzogen; ein neuer Bund aber ist bis heute nicht geschlossen, und das Facit der neuesten deutschen Geschichte ist somit zur Stunde nichts als ein Zustand vollständiger Zerklüftung und allgemeiner Zerfahrenheit. Man denkt in der That nicht zu nachtheilig von diesem Zustande, wenn man sich eingesteht, daß die deutschen Regierungen im Grunde schon jetzt nicht mehr in einem festen gegenseitigen Vertragsverhältnisse zusammenstehen, sondern nur noch bis auf weiteres im Vorgefühle naher Katastrophen nebeneinander fortleben. Die deutsche Revolution aber, im Stillen geschürt, wartet auf ihre Stunde.

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