GHDI logo


Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

Hellmuth von Gerlach (1866-1935) war in den 1880er Jahren Mitglied des Vereins deutscher Studenten, als er den Hofprediger Adolf Stöcker (1835-1909) kennen lernte und der christliche Sozialismus ihn fesselte. Er war einer der bedeutendsten Zeitungsherausgeber und Agitatoren in Stöckers Christlich-Sozialer Partei. Nach Mitte der 1890er Jahre wechselte er ins Lager des Nationalliberalen Friedrich Naumann (1860-1919). Sein politischer Wandel nach Links setzte sich vor und während des Ersten Weltkriegs fort: Er trat für den Pazifismus ein und wurde Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei. Der folgende Auszug ist Gerlachs Autobiografie entnommen (Von rechts nach links), die 1937 veröffentlicht wurde. Gerlach vermag die Machenschaften und Korruption der selbstsüchtigen Anführer der deutschen antisemitischen Bewegung (von denen viele an anderer Stelle in den Dokumenten und Bildern dieses Bandes vertreten sind) zu durchschauen.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 10


15. KAPITEL

WIE ICH ANTISEMIT WURDE

Im Winter 1885 wohnte ich dem Reichsgründungskommers des V. d. St. (Vereins Deutscher Studenten) in Leipzig bei. Hofprediger Adolf Stöcker war der Festredner. Er begann: „Liebe junge Freunde! Wie Sie hören, bin ich stockheiser. Ich kann nur noch krächzen. Aber ich will krächzen wie die Raben vom Kyffhäuser von des Reiches Herrlichkeit!” Diese ersten Worte, die aus Stökkers Munde kamen, blieben eingemeißelt in mein junges Gehirn. Waren sie doch für mich das erste Zeugnis von einer Redegabe, wie sie seit Lassalle in Deutschland nicht wieder aufgetreten war. Wie unerhört bildhaft konnte dieser Mann sprechen! Als der Pfarrer an der Berliner Sophienkirche, Walter Burckhardt, im Alter von 27 Jahren gestorben war, hielt ihm Stöcker die Leichenrede. Burckhardt, schön wie ein junger Gott und hochbegabt, war der Lieblingsschüler des von ihm schwärmerisch verehrten Meisters gewesen. Stöcker, der kinderlose Mann, richtete den Blick auf den Sarg: „Er war mir wie ein Sohn, in meiner Arbeit meine rechte Hand. Die ist nun abgehauen.” Da brach dem harten Mann die Stimme. Der ganzen Versammlung stand das Herz still und gingen die Augen über. Redegabe ist bekanntlich selten in Deutschland. Stöcker besaß sie in ihrer wertvollsten Ausprägung: immer in der dem Milieu angepaßten Form sprechen zu können. Auf der Kanzel oder beim Festmahl, am Grabe oder am Taufbecken, in der Synode oder im Parlament, in der von Gegnern gefüllten Volksversammlung oder vor den getreuen Schäflein eines Missionsvereins – stets war seine Rede der Hörerschaft adäquat.

Vielfach wurde behauptet, Stöcker habe bei einem großen Schauspieler Unterricht in der Redekunst genommen. Bei ihm war nämlich in der Tat alles in Einklang: Inhalt der Rede, Haltung, Geste, Miene, Stimme. Aber das war kein Kunstprodukt. Dieser Mann brauchte keine rednerische Unterweisung. Alles war Natur, beherrschte Natur. Darum wirkte es überwältigend, daß selbst im skeptischen Parlament alles wie gebannt an seinem Munde hing.

Man konnte Stöcker hassen, man konnte ihn lieben, gleichgültig konnte ihm gegenüber niemand bleiben. Ein Jahrzehnt hindurch habe ich ihn geliebt. Immer, wenn ich wankend zu werden begann, schlug mich die Betörung seiner Rede wieder in Bann. Wenn ich noch so sehr an einer seiner politischen Kundgebungen Anstoß genommen hatte, – saß ich dann am Sonntag unter seiner Kanzel in der Stadtmissionskirche, so wurden meine Sinne wie benebelt. Verzaubert blieb ich im Zauberberg.

Sonntag abend aber wußte Stöcker das Letzte, was sich an Zweifel im Laufe der Woche bei seinen Anhängern eingestellt hatte, zu zerstören. Er, der durch seine Heirat ein reicher Mann geworden war, hatte ein offenes Haus. Sonntag abend pflegte er an einer reich, wenn auch nicht üppig besetzten Tafel 20 bis 30 seiner Freunde um sich zu sammeln. Namentlich die Jugend war stark vertreten, dazu die Gesinnungsgenossen aus dem Reich, die gerade in Berlin weilten. Dann wurden die Tagesfragen durchgesprochen.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite