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Erlass Kaiser Wilhelms II. an Bismarck über die Arbeiterschutz- und Sozialpolitik (4. Februar 1890)

Im Juni 1888, nach dem Tod sowohl seines Großvaters als auch seines Vaters im selben Jahr, wurde Wilhelm II. deutscher Kaiser. Eine Kraftprobe mit dem alternden Bismarck, der 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt worden war, wurde von Monat zu Monat wahrscheinlicher. Ein Zankapfel zwischen den beiden Männern war die Sozialpolitik, die infolge massiver Streiks 1889 äußerst heikel geworden war. Im Januar 1890 entwickelte Wilhelm II. Pläne, um einen besseren Arbeiterschutz einzuführen, und beschloss, dass eine Konferenz zur Erörterung der entsprechenden Fragen einberufen werden sollte. Diese Absichten sind in dem kaiserlichen Erlass skizziert, den Wilhelm am 4. Februar an Bismarck übersandte und der in Auszügen folgt. Da Bismarck zu dieser Zeit einer entscheidenden Auseinandersetzung mit den Arbeitern entgegensteuerte – die so konzipiert war, dass sie ihn für den jungen Kaiser unentbehrlich machen sollte – trat eine andere Art von Krise ein und führte zu Bismarcks Entlassung am 18. März 1890.

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Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten, welche Meiner Fürsorge durch die Nothwendigkeit gezogen sind, die deutsche Industrie auf dem Weltmarkte konkurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz zu sichern. Der Rückgang der heimischen Betriebe durch Verlust ihres Absatzes im Auslande würde nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Arbeiter brodlos machen. Die in der internationalen Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage unserer Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der Beherrschung des Weltmarktes beteiligten Länder, wenn nicht überwinden, doch abschwächen. In der Überzeugung, daß auch andere Regierungen von dem Wunsche beseelt sind, die Bestrebungen einer gemeinsamen Prüfung zu unterziehen, über welche die Arbeiter dieser Länder unter sich schon internationale Verhandlungen führen, will Ich, daß zunächst in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz durch Meine dortigen Vertreter amtlich angefragt werde, ob die Regierungen geneigt sind, mit uns in Unterhandlungen zu treten Behufs einer internationalen Verständigung über die Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten Jahre und anderweit zu Tage getreten sind. Sobald die Zustimmung zu Meiner Anregung im Prinzip gewonnen sein wird, beauftrage Ich Sie, die Kabinette aller Regierungen, welche an der Arbeiterfrage den gleichen Antheil nehmen, zu einer Konferenz Behufs Berathung über die einschlägigen Fragen einzuladen.

Wilhelm I. R.[König und Kaiser]



Quelle: Erlaß Kaiser Wilhelms II. an den Reichskanzler vom 4. Februar 1890. Reichs- und Staatsanzeiger, Nr. 34 (5. Februar 1890).

Abgedruckt in Ernst Rudolf Huber, Hg., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 3. bearb. Ausg., Bd. 2, 1851-1900. Stuttgart: Kohlhammer, 1986, S. 510-11.

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